Irgendwann ist Schluss
sagte sich Karl, werde ich die Gelegenheit nutzen und einen Anwalt aufsuchen. Er griff zum Telefonbuch, wählte die Nummer einer Kanzlei im Stadtzentrum. Die Sekretärin fragte, worum es gehe, Karl entgegnete, er wolle einen Anwalt sprechen, die Sekretärin nannte den Preis für ein kurzes Informations-Gespräch. Und Karl ließ sich einen Termin geben.
Am nächsten Tag fuhr er hin.
Der Anwalt hieß Alfred Plummer.
Karl redete.
Plummer nickte.
Das sei durchaus möglich, sagte Plummer, informierte Karl aber darüber, dass er nicht nur den Prozess, sondern auch eine Menge Geld verlieren könnte.
»Das ist mir egal«, sagte Karl.
»Sind Sie sicher?«
»Es geht nicht ums Gewinnen, es geht ums Prinzip.«
»Dann setze ich jetzt etwas auf.«
Während Bischoff wartete, brachte ihm eine junge Frau eine Tasse Kaffee. Sie stellte sich vor als Kathrin Myrrhe, Referendarin. Ob sie sonst noch was für ihn tun könne? »Nein«, sagte Bischoff. Aber weil Kathrin Myrrhe kurz unschlüssig bei ihm stehen blieb, erzählte er ihr plötzlich den Fall. Kathrin setzte sich neben ihn und hörte zu, viel interessierter als der Anwalt Plummer. Sie nickte und lächelte.
Später musste Karl etwas unterschreiben.
»Wir melden uns«, sagte der Anwalt.
Bischoff verabschiedete sich, und Kathrin Myrrhe brachte ihn zur Tür. Karl drückte ihr die Hand. Dann stand er draußen und blickte auf die Uhr. Er musste sich beeilen. Seine Tochter wartete bestimmt schon im Café. Karl Bischoff hätte jetzt unbedingt jemanden zum Reden gebraucht. Über das, was er in die Wege geleitet hatte. Und er freute sich darauf, Nina alles zu erzählen.
Doch im Café redete zuerst Nina, und Karl konnte sich nicht richtig konzentrieren. Als er endlich loslegen wollte, trat jemand an ihren Tisch, einer von Ninas Freunden. Nina stellte ihn als Henry Böttcher vor, und Karl wusste nicht, in welchem Verhältnis er zu Nina stand, und weil Nina nichts dagegen hatte, hatte auch Karl nichts dagegen, und so setzte sich Henry Böttcher zu ihnen. Dieser Henry erwies sich als sehr dominant, ein Journalist, der bei der Badischen Zeitung gearbeitet, aber irgendwann seinen Job verloren und bei der BILD -Zeitung angefangen hatte. Henry rechtfertigte sich sofort dafür, indem er sagte, die BILD -Zeitung sei besser als ihr Ruf, aber Karl hatte nicht das Gefühl, dass Henry meinte, was er sagte. Er lauschte eine Weile den Ausführungen des Journalisten, der sich über diese »heuchlerischen Intellektuellen« ereiferte, die sich hinter ihrer FAZ verschanzten und sagten, sie würden nie im Leben eine BILD -Zeitung kaufen, dann aber, wenn im Zug zufällig mal jemand eine BILD -Zeitung liegen lasse, sofort zu ihr griffen und alles gierig in sich hineinsüffelten. Und die FAZ sei genauso tendenziös wie die BILD -Zeitung, jede Zeitung sei tendenziös und … Karl hörte irgendwann nicht mehr zu, und der Abend verstrich, ohne dass Karl Gelegenheit gehabt hätte, mit Nina über das zu reden, worüber er eigentlich hatte reden wollen.
Karl Bischoff hat das Verlieren gelernt. Er hat sich durchs Verlieren nie aus dem Konzept bringen lassen. Nach dem Verlust seiner Frau hat er zuerst gedacht, es ginge nicht weiter, aber das stimmte nicht: Irgendwie ging es weiter. Stück für Stück. Schritt für Schritt. Das war der Uhr zu verdanken, die nicht aufhörte zu ticken. Er hat sich auch nach dem Tod seiner Frau weiter rasiert, er ist der Nassrasur treu geblieben, er hat weiterhin seine Socken angezogen, ehe er die Füße in die Schuhe schob, er hat sich die Haare gewaschen, er hat sich dann, Wochen nach dem Tod seiner Frau, neue Kleider gekauft, weil er welche brauchte, er hat getrunken und gegessen, er hat nicht aufgehört, im Haus Dinge zu finden, die er reparieren konnte, an den Wochenenden, er hat weiter als Waagenbauer gearbeitet. Nach ein paar Tagen, die man ihm für die Trauer einräumte, hat er seine Arbeit wieder aufgenommen, hat Rädchen und Federchen, Gewichte und Platten montiert, hat all das weiter getan, was er so gut kannte und konnte aus der Lehre und der jahrelangen Berufsausübung. Er hat am Abend den Kühlschrank geöffnet und ist ein paar Sekunden in der Kühlkälte und dem Licht gestanden und hat, wenn er Lust hatte, einen Joghurt aus dem Kühlschrank genommen und ist aufs Sofa zurück, um fernzuschauen, er hat sich weiter den Kopf gekratzt, wenn er juckte, er hat sich die Fingernägel abgebissen und aus dem Fenster in den Garten gespuckt oder in die Toilettenschüssel, er
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