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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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vom Babyphon geweckt. Das war nichts Ungewöhnliches. Jeden dritten oder vierten Tag weckt ihn immer mal wieder das Babyphon. »Karl!«, hörte er die schrille Stimme seiner Schwester. »Karl!« Er seufzte, zog seinen Bademantel an und schlurfte hoch zu Alma. Er wusste, was kommen würde. Oft genug hatte sich das so abgespielt. Schon hörte er sie pfeifen.
    »Karl«, rief sie. »Komm rein. Komm schnell. Du musst mir helfen! Du musst die Polizei rufen!«
    »Was ist los?«, fragte Bischoff mechanisch und zog einen Stuhl neben das Bett.
    »Sie sind hier gewesen!«, sagte Alma.
    »Wer?«, fragte Karl, wie schon so oft.
    »Die Männer. Ich habe getan, als ob ich schlafe, aber ich seh sie genau, ich hör sie, die räumen meine ganze Wohnung leer.«
    »Aber hier steht doch noch alles.«
    »Jaja. Die tauschen es aus. Sie räumen erst alles leer. Dann bringen sie andere Möbel rein.«
    »Aber das sind doch dieselben Möbel wie gestern.«
    »Nein, nein. Die sehen nur so aus. Die denken, ich merk das nicht. Aber ich kenn doch meine Sachen. Das sind nicht meine Sachen. Das sind nur Sachen, die haargenau so aussehen wie meine Sachen. Der Tisch hier sieht haargenau so aus, als ob er meiner wäre, aber er ist es nicht. Sie haben ihn ausgetauscht!«
    »Alma.«
    »Kannst du nicht nächste Nacht im Treppenhaus aufpassen, dass die nicht wieder reinkommen?«
    »Warum sollten die noch mal kommen? Die haben doch jetzt schon alles ausgetauscht.«
    »Vielleicht tauschen sie auch noch mich aus. Man weiß ja nie. Dann kommen sie ins Schlafzimmer und nehmen mich mit und legen stattdessen eine andere Frau ins Bett, die nicht ich bin . Das würdest du ja nicht mal merken, Karl. Hör zu, pass auf, ich sag dir was. Komm näher!« Sie sah sich nach allen Seiten um und winkte ihren Bruder heran. Der roch den leicht fauligen Dritte-Zähne-Atem und sah in ihre Runzeln. »1950 bin ich mit einem Mann im Kino gewesen. Schwarzwaldmädel , mit Rudolf Prack.« Karl hörte sie kaum noch. »Wir saßen in der letzten Reihe, an den beiden Randplätzen links. Das kann meine Doppelgängerin nicht wissen. Also wenn du mich das nächste Mal siehst, frag mich, wo ich 1950 im Kino gesessen bin. Wenn ich es nicht weiß, hat man mich ausgetauscht, dann musst du mich suchen, versprich mir das, ich weiß ja gar nicht, wo die mich hinbringen, die Männer, du musst denen auflauern, und dann musst du ihnen folgen, dann musst du mich befreien. Und die andere«, flüsterte sie, »die andere, die nicht ich bin, die nur so tut, als ob sie ich ist, die andere, die dann hier in meiner Wohnung wohnt und in meinem Bett schläft und meine Sachen trägt, die musst du entsorgen.«
    »Entsorgen?«
    »Umbringen!«, sagte sie.
    »Alma!«
    »Killen!«, rief sie.
    »Ich mach dir jetzt Frühstück.«
    Der Neurologe hatte gesagt, Bischoff hätte noch Glück gehabt. Bei manch anderen Capgras-Patienten sehe die Sache schlimmer aus. Da gebe es Fälle, bei denen die Kranken gerade die nächsten Verwandten nicht erkennen würden. Solange sich das nur auf die Vorstellung des Möbelaustauschs beschränke, sei es für die Angehörigen auszuhalten. Karl ging inzwischen routiniert damit um. Manchmal fragt er seine Schwester am nächsten Tag: »Alma, du bist 1950 im Kino gewesen, mit einem Mann, Schwarzwaldmädel hieß der Film. Weißt du noch, wo genau du da gesessen hast, im Kino?« Dann starrt sie ihn ungläubig an und sagt, sie sei nie mit einem Mann im Kino gewesen. »Schon gut!«, sagt Karl dann, steht später im Treppenhaus und stellt sich vor, wie drei Männer die geknebelte Alma die Treppe runterschleifen.
    Karl blieb nicht lange bei Alma. Er hatte etwas auf einen Zettel geschrieben. Etwas, das es jetzt zu erledigen galt. Und so verbrachte er die nächsten vier Stunden im Internet. Seine Tochter Nina hatte ihm den Computer eingerichtet. Anfangs hatte er sich gesträubt, jetzt aber war er froh darüber. Gegen die Bundesrepublik Deutschland zu klagen war nicht nur möglich, das lernte Karl schnell, es war geradezu ein Sport. Karl kam gar nicht mit, so schnell flackerte das im Computer vor seinen Augen: Liechtenstein klagte, die Herero klagten, der Behindertenverband klagte, die Bashkirian Airlines klagten, Caroline von Monaco klagte, die MaharishiSekte klagte, ehemalige italienische Zwangsarbeiter klagten, vierunddreißig Bürger aus der serbischen Kleinstadt Varvarin klagten, es gab eine Goldbondklage wegen Altschulden aus der Weimarer Republik. Außerdem klagte ein Drogendealer aus Sierra

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