Irgendwann ist Schluss
etwas furchtbar Schlimmes zu. Die Kanzlerin schaute in der Montage nach unten, sodass es aussah, als blickten sich beide grimmig an. Böttcher setzte nach: Mit einem weiteren Tastendruck ließ er die Titelzeile erscheinen: Bischoff gegen BRD . »Wir haben die Erlaubnis«, fügte er hinzu, »seinen Namen zu verwenden.« Böttcher schob die Unterüberschrift nach: »Rentner verklagt Deutschland wegen Steuerverschwendung.« Der Chefredakteur rieb sich die Hände.
Bischoff hatte nicht mit dem gerechnet, was jetzt geschah. Mit einer solchen Welle von Sympathie, die ihn überrollte. Er wurde in den nächsten Wochen zugeschüttet mit Post: Leute, die ihn unterstützen wollten, Anfragen, ob man sich beteiligen und mitmachen könne, die Solidarisierung mit dem Rentner, der gegen die Großkopferten in den Krieg zog. Bischoff bekam sogar eine Einladung zu einer Talkshow. »Die musst du annehmen«, sagte Dorngartner. Bischoff nahm sie an. Er fuhr hin. Der Moderator begrüßte ihn mit dem Satz, er müsse sich unbedingt an die Redezeit halten. Die Sendung wurde aufgezeichnet. Bischoffs Antworten waren nicht sonderlich ausgefeilt, und das Gespräch war kürzer, als er gedacht hatte. Trotzdem applaudierte das Publikum heftig. Eine Menge Leute stürmten danach auf Bischoff zu. Er musste viele Hände schütteln. Auf der Rückfahrt spürte er immer noch eine wohlige Wärme im Bauch. Das monotone Klacken machte ihn schläfrig. Als er aufschreckte, standen ein Schaffner und eine Schaffnerin neben ihm. Sie hatten einen Piccolo vor ihm aufgebaut, einen Kaffee, etwas zu essen.
»Von uns«, sagten sie. »Sie sind doch Karl Bischoff, oder?«
»Ja«, sagte Bischoff, »der bin ich.«
»Und viel Erfolg beim Prozess!«
Karl fühlte sich überraschend jung und frisch.
Die Müdigkeit schlug erst zu Hause zu. Dort war alles unverändert. Derselbe Bettvorleger, dieselben Teppiche und Farbflecken auf dem Küchenfensterrahmen, dieselben Serviettenringe im Schrank. Karl goss die Blumen. Dafür ließ er sich Zeit. Wenn er sich um die Blumen kümmerte, kam er immer zur Ruhe. Die Ruhe tat ihm gut. Er aß nichts. Er sah auf die Uhr. Er ging zu Alma. Die Pflegerin saß im Wohnzimmer und las. Alma arbeitete an ihren Ovalen. Karl sah ihr gern zu, wenn sie an ihren Ovalen arbeitete. Sie hatte viel von ihrer früheren Geschicklichkeit verloren. Die Bögen lagen in ihrem Schoß. Sie schnitt aus jedem Din-A4-Bogen Ovale, ein großes Oval, dann ein kleineres, immer kleiner wurden die Ovale, so klein, dass am Schluss nur noch ein winziges Ei von den Bögen übrig blieb. Die ausgeschnittenen Ränder der Ovale legte sie nebeneinander.
»Bin froh, wenn’s vorbei ist«, sagte Karl.
»Was?«
»Der Prozess.«
»Welcher Prozess?«
»Willst du nicht schlafen?«
»Ich kann nicht mehr«, sagte Alma leise. Und dann war sie plötzlich ganz klar, mit einem Schlag. Solche Momente gab es hin und wieder. Das war, als gönne sich die Krankheit im Kopf eine Pause. Jetzt aber merkte Bischoff, dass etwas in seiner Schwester vorging. Sie sah aus wie eine heruntergebrannte Kerze, das Wachs fast aufgebraucht, kurz vorm Erlöschen. Bischoff erschrak.
»Werde ich sterben?«, fragte Alma.
»Irgendwann«, sagte Bischoff. »Irgendwann, ja.«
»Irgendwann, gut«, sagte Alma.
»Ja«, sagte Karl. »Irgendwann ist Schluss.«
Karl verstand wenig von dem, was man bei Gericht sagte. Hin und wieder blickte er zu Plummer oder nach hinten, zu Dorngartner Fred oder zu Nina. Sie alle nickten ihm zu. Es schien gut zu laufen. Er hatte nichts zu tun im Saal. Der Anwalt erledigte alles. Plummer hatte mit Feuereifer die Sache an sich gerissen. Ungefähr am Tag nach der BILD -Reportage hatte er Karl persönlich an der Tür begrüßt, Herr Bischoff, hatte er gesagt, kommen Sie rein, aber Karl hatte erwidert, er würde lieber mit Frau Myrrhe sprechen. Trotzdem: Karl kam kaum zur Ruhe. Da waren viel zu viele Dinge, die Bischoff sagen, viel zu viele Mikrophone, in die er sprechen, viel zu viele Briefe, die er beantworten musste. Er hatte kaum noch Zeit für Alma. Nur kurz schaute er abends rein und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Bischoff saß im Gerichtsgebäude, schweigend, und hörte nicht richtig zu, er dachte an alles Mögliche, an Unterwäsche, an Fahrradschläuche, an Briefbeschwerer, und ganz besonders oft dachte er an Waagen, er zählte immer wieder innerlich die verschiedensten Waagenarten auf: Mikrowaagen, Makrowaagen, Präzisionswaagen, Digitalwaagen, Briefwaagen, Stahlwaagen,
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