Irgendwann ist Schluss
hatten uns durch unsere nächtlichen Treffen inzwischen einen Vorsprung von satten 298 Seiten gegenüber den Aufzeichnungsgegnern erarbeitet. Unsere Überraschung war grenzenlos. Wir konnten kaum glauben, was dort stand. Wir sahen uns an und lasen immer wieder jene fünf Seiten. Auf den Reinen Fünf Seiten , wie wir sie jetzt nennen, steht glasklar geschrieben, was sich vor etwa einem Jahr ereignet haben muss: etwas so Eigenartiges, dass Löwe sich selbst, seinen Stil und seine wirr assoziative Gedankenkraft vergaß und in glatter Prosa eine unmittelbar und eingängig nachvollziehbare Nachricht hinterließ, die nicht nur vollkommen verständlich, sondern in einfachsten, geraden Hauptsätzen, schnörkellos, mit perfekter Interpunktion, klarster Kausalkettenfolge und allem, was seine sonstige Aufzeichnungsprosa vermissen ließ, verfasst war, sodass in der Gruppe sogleich ein heftiger Streit über die Bedeutung des Gelesenen entbrannte. Jetzt, so sagten zwei von uns, hat er uns verloren. Das, sagten sie, ist Verrat an seinem Genius. Nie, sagten sie, könne Löwe etwas so Banales verfasst haben. Irgendwann, sagten sie, sei Schluss. Wir ZWEI Verbliebenen dagegen verteidigten Löwe aufs Heftigste, wir sagten, alles muss sich haargenau so abgespielt haben, wie er es in diesen Worten beschreibt, es kann nur genau so gewesen sein, Löwe sagt die Wahrheit, er kann gar nicht lügen – er lügt nie, er wahrheitet , zitierten wir Löwe, den ersten Denker, der der Wahrheit zu einem Verb verholfen hatte –, es ist der unausweichliche Höhepunkt seines Werks, sagten wir, der Nebel, der sich lichtet, der weggerissen wird, die Belohnung für uns, die wir ausgeharrt haben und ihm bis hierhin gefolgt sind, es ist die Offenbarung, es ist mehr, als wir zu hoffen gewagt haben. Und wir ZWEI sprangen auf, bereit, für Löwe zu kämpfen, die anderen aber rissen das Manuskript an sich und warfen es in die Luft, das Löwe-Manuskript, den Originalausdruck. Natürlich hatten wir Kopien gemacht, aber dieser Ausdruck war der erste und galt uns als heiliges Original. Und dort, in der Wohnung, nachts, da fielen wir übereinander her und bekämpften uns, da prügelten wir die Verräter aus der Wohnung, da retteten wir den Originalausdruck und beruhigten uns nur langsam wieder, sehr langsam, indem wir die von uns vorsichtig und nur mit Bleistift nummerierten Blätter – Löwe hatte auf Seitenzahlen verzichtet – sorgsam ordneten und auf die Stapel legten, die einen Kreis im Wohnzimmer bildeten, in dem wir zu hocken pflegten, weil die Aura der Schriftstücke unser Denken beflügelte und der Geist Löwes wie in einem unsichtbaren Ring uns in seine Gedanken bannte und wir daran glaubten, dass wir nur im Kreis seiner Gedanken und Schriften in der Lage wären, überhaupt etwas von dem zu verstehen, was er uns hinterlassen hatte. Erschöpft vom Kampf atmeten wir ZWEI durch, ehe wir noch einmal jene Reinen Fünf Seiten zur Hand nahmen und lasen, laut vorlasen, abwechselnd, jeder eine Seite, keiner ein Wort mehr als der andere, eifersüchtig darüber wachend, nicht untervorteilt zu werden, und währenddessen wurde uns klar, dass etwas geschah, was unser bisheriges Sinn- und Lebensgebäude endgültig einreißen sollte. So etwas wie das, was Löwe hier beschrieben hat, da waren wir ZWEI uns sofort einig, so etwas kann unmöglich von einem Denker oder sogenannten Künstler ausgedacht worden sein, so etwas muss sich wirklich abgespielt haben. Wir glauben jedes Wort, doch wir versuchen gar nicht erst, das, was er schreibt, in eigenen Worten wiederzugeben, wir hüten uns, seine Worte abzupinseln, wie könnten wir es wagen, eine Kopie anzufertigen, nein, wir können nur das Ergebnis der Reinen Fünf Seiten wiedergeben.
Das Ereignis.
Der Augenblick.
Da der Geist-Löwe sich vom Körper-Löwe trennt.
Da der Geist-Löwe aufersteht aus dem Körper-Löwe.
Da der Geist-Löwe seine ersten Schritte setzt.
Da der unsichtbare Geist die Tür öffnet.
Die Wohnung verlässt.
Bereit zur Tat.
Zur Handlung.
Ein greifbarer Gedankengang, ein …
Die Aufzeichnungen gehen nun wieder über in die anfängliche Wirrheit, in ihre verquere Sprachlogik und ihre Assoziationskaskaden, sie verlieren jede Klarheit, die während der Fünf Heiligen Seiten , wie wir sie jetzt nennen, geherrscht hat, sie sind in demselben Stil gehalten wie die Seiten zuvor, aber WIR haben uns geändert, die ZWEI , die übrig geblieben sind, wir haben einen neuen Blick gewonnen, es ist fast, als hätten
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