Irgendwann ist Schluss
persönlichen Löwe-Futur, es ist ein gegenwärtiges Futur, das die Vergangenheit mit einbezieht, eine Zeit, die alles in sich vereint, eine Zeit, die eine ewige Gegenwart zum Ausdruck bringt und sich über alles stellt, was wir bislang als Realität wahr- und angenommen haben. Es ist ein Visionsfutur, das noch ungeschehen und gleichwohl schon geschehen ist und zugleich geschieht, gerade, im Augenblick. Es ist »die Vergangenheit und Zukunft im gekreuzigten Körper der Gegenwart«. Ich werde mich selbst verlieren, schreibt Kurt Löwe, ich werde mich selbst verlieren, damit ihr euch gewinnen könnt. Er wird seinen Körper nicht mehr füttern, nicht mehr tränken, er wird den Löwe-Körper kläglich eingehen lassen. Und Löwe hofft, dass, wenn der Löwe-Körper eingeht, der losgelöste Löwe-Geist am Leben bleibt, nackt, unsichtbar, vernichtungsbereit, und Löwe schreibt, wenn er sich täuscht, wenn mit dem Körper auch der Geist den Geist aufgibt und nichts von ihm zurückbleibt, so gibt es immerhin noch die Aufzeichnungen mit dem Titel zugegen.doc . Und irgendjemand wird die Aufzeichnungen finden und lesen, und irgendjemand wird es den Menschenfischen sagen, und irgendjemand wird sie wecken, wird ihnen vor Augen führen, was da in ihnen steckt, und ich, ich, ich bin der Einzige, der übrig ist von denen, die begannen, Löwes Werk zu umkreisen, und so liegt es nun an mir, Löwes Auftrag zu erfüllen, denn die Tatsache, dass der letzte Giftmord inzwischen vier Wochen zurückliegt, lässt darauf schließen, dass mit dem Ende des Körper-Löwe auch der Geist-Löwe ein Ende gefunden hat, und ich nehme die Aufgabe an, nehme sie dankbar an. Ich weiß, was ich zu tun habe, ich weiß, dass die Menschen Löwe nicht verstehen werden, dass sie Löwe hassen und verachten werden, dass sie einen Mörder in ihm sehen werden, einen Menschentöter, und das ist die Wahrheit, aber die Wahrheit wird uns fesseln, sagt Löwe. Erst wenn wir gefesselt sind, wenn wir ganz in uns selbst gefesselt sind, wenn wir konzentriert und unabgelenkt und aufrichtig uns selbst betrachten, wissen wir, was zu tun ist. So will ich den Menschen Löwes Worte mitteilen, will mit Löwe gemeinsam untergehen im aufbrandenden Hass, hoffe, dass irgendwann Löwes Aufzeichnungen, und nicht nur Löwes Aufzeichnungen, sondern auch Löwes Leben, und nicht nur Löwes Leben, sondern auch Löwes Absichten, seine Lehre, sein Tun und Wollen verstanden werden. Jetzt sitze ich hier und warte auf sie, warte darauf, dass sie kommen werden, aber sie können nichts tun, sie werden nichts tun können, sie können Löwe nicht verhaften, denn er ist nicht mehr greifbar, und sie können mich nicht verhaften, denn ich habe nichts verbrochen, aber Löwe wird weiterleben, in mir, mit mir. Sie können es nicht verhindern, sie wissen es nicht, und das ist meine Chance: Ich bin Löwe, und Löwe ist ich.
Im Séparée
K urz nachdem Erwin Koller aus der Limousine steigt, setzt der Regen ein. Sein Chauffeur öffnet den Schirm und hält ihn über Kollers Kopf, während die beiden sich dem Restaurant nähern. Der Chauffeur wird halbseitig nass. Vor dem Münsters reagiert Koller mit knappem Kopfnicken, als der Chauffeur ihn fragt, ob er wie üblich in zwei Stunden wieder hier sein soll. Als Koller das Restaurant betritt, geht er ohne zu zögern Richtung Séparée, wird aber kurz vor dem kleinen Gang, der dorthin führt, von Evi, der Kellnerin, angesprochen.
»Herr Koller! Guten Tag. Es tut mir leid. Das Séparée ist heute bereits belegt.«
»Ich komm doch fast jeden Dienstag«, sagt Koller laut schnaufend. »Hat mein Sekretär Sie nicht angerufen?«
»Doch, doch. Es ist wohl unsere Schuld, Herr Koller. Etwas ist da durcheinandergeraten. Kurz nach dem Anruf hat Ihr Sekretär noch einmal …«
»Sie wissen doch, dass ich meine Ruhe haben will beim Essen.«
»Es tut mir leid. Wir …«
»Nach dem Essen will ich mit dem Maître sprechen.«
»Wie Sie wünschen, Herr Koller.«
»Und? Wer sitzt dort, im Séparée? Ach was, egal. Bringen Sie mich zu ihm.«
Noch ehe Evi etwas sagen kann, geht Koller den Gang hinunter, Evi überholt ihn, hält die Tür auf, schiebt den Vorhang beiseite, Koller tritt ein. Das Séparée ist etwa vierzig Quadratmeter groß. Zwei Fenster, die auf den Hinterhof gehen, tiefbraunes Parkett, ein Schrank zur Dekoration, Blumenarrangements, eine Holzdecke, ein breiter Tisch mit acht Stühlen. Am einen Ende der Tafel sitzt ein Mann Anfang vierzig. Volles Haar, schlank,
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