Irgendwann ist Schluss
vorging. Jetzt, da er augenscheinlich verschollen ist, müssen wir, die Exegeten, das Werk auslegen, es ins rechte Licht rücken, und wenn unsere Worte noch so belanglos erscheinen im Vergleich zu denen Löwes. Und indem wir dies tun, bemühen wir uns, ihn von diesem schnöden Verdacht zu reinigen, der über ihm liegt, seit das Gift in seiner Wohnung gefunden worden ist.
Man muss beginnen mit seiner Manie. Man kann es nicht anders nennen. In den Jahren seiner Dissertationsanfertigungen war Löwe ein unablässig Suchender. Entziffert man die Aufzeichnungen richtig, so muss man zugeben, dass ihn das, worüber er in den Dissertationen referierte, nie interessiert hat. Die Liebe, die Hingabe, die uns allen scheinbar aus seinen Dissertationen entgegenleuchtet, ist nichts als eine aufgesetzte Liebe, eine vorgetäuschte Hingabe, nur ein Spiel. Das zu glauben fällt schwer. Sehr schwer. Doch seine eigene Liebe galt etwas ganz anderem. Er war besessen von der Macht des Denkens. Er strebte danach, die Körperlosigkeit des Gedankens in eine Körper haftigkeit zu wandeln. Er wollte nicht mehr und nicht weniger, als die immateriellen Gedanken zu materialisieren, die unsichtbare Kraft der Gedanken sichtbar werden zu lassen. Er wollte das reine Denken zum unreinen führen, die reine Vernunft zur schmutzigen. Er wollte, dass seine Gedanken wie ein lebendes Wesen aus ihm heraus- und in die Welt hineinspazierten, zu den Menschen, um dort wirklich, greifbar und zugegen zu sein in Tat und Handlung. Wie können wir uns den Meister vorstellen auf der Suche nach dem Unmöglichen, einer Suche, die jedem Menschen mit Verstand als vollkommen lächerlich erscheinen muss? Wie kann es sein, dass ein Mann aus solch einer Höhe des Geistes hinabstürzt in die Niedrigkeiten kruder Esoterik? Wie kann man sich mit solch einer Besessenheit an ein kindlich-magisches Wunschdenken verlieren, während man doch im Besitz der höchsten geistigen Kräfte ist? Es ist tatsächlich unverständlich, so unverständlich wie die Aufzeichnungen im Ganzen, aber man darf ihn nicht vorschnell verurteilen, nein, er, Löwe, ist alles, was wir haben. Unsere Gruppe hat sich in minutiöser Kleinstarbeit an die Aufzeichnungen gesetzt, wir haben alles Private geopfert, um endlich zu verstehen, was uns Löwe hier mitteilen und sagen will, wir haben uns der Lächerlichkeit preisgegeben, die von den Kollegen der anderen Gruppe über uns ausgegossen wurde, haben den Krieg gegen die anderen angenommen, ihnen gesagt, suhlt ihr euch ruhig im lauen Schlamm, wir dagegen gehen weiter, wir durchstoßen die Grenzen, wir folgen Löwe auf seinem geheimen Pfad, wir wollen ihn kennenlernen, und zwar richtig, mit allem, was dazugehört. In der Tat ist es uns gelungen, das eine oder andere Mitglied der verfeindeten Gruppe abzuwerben und dem Kreis der Aufzeichnungsbefürworter einzuverleiben, wie jedoch auch, so viel müssen wir zugestehen, der eine oder andere unserer Gruppe über den Aufzeichnungen verzweifelt und zu den Aufzeichnungsgegnern, in den Kreis des scheinbar sauberen Denkens, der Klarheit und Nüchternheit zurückgekehrt ist. Im Grunde genommen herrscht ein Kommen und Gehen zwischen den Gruppen, und nur wenige von uns sind von Anbeginn an den Aufzeichnungsbefürwortern treu geblieben, und diese wenigen – um genau zu sein, sind es VIER –, diese wenigen sind in unseren Augen der harte, unbeugsame Kern, wir VIER sind diejenigen, die – wenn auch insgeheim und umnebelt von einem oberflächlichen zugegen.doc -Hass – von Anfang an Löwe zu folgen bereit waren, während alle anderen immer wieder in Zweifel gerieten.
Wir trafen uns heimlich. In kalten Nächten. Wir beschäftigten uns tagsüber mit Löwe, wie alle anderen auch, doch wenn die anderen erschöpft, müde und verzweifelt von der Unverständlichkeit der Aufzeichnungen in die sogenannte freie Zeit flüchteten, trafen wir VIER uns, ohne dass die anderen etwas von dem ahnten, was wir taten, trafen uns abwechselnd bei einem der VIER , lasen noch einmal leise und laut die durchgesprochenen Passagen, rätselten und versuchten, Löwes Gedankenwelt zu ergründen, notierten Einsichten, die uns kamen, schöpften Hoffnung, wenn plötzlich ein Gedanke sich in Gewissheit zu kleiden schien.
Und dann geschah Unerwartetes. Plötzlich, unverhofft, wie aus dem Nichts, fanden sich fünf Seiten in zugegen.doc , die in der klarsten Prosa abgehalten waren, Seiten, die wir in der Nacht zum 23. November lasen, der Kreis der VIER , denn wir
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