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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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uns die Fünf Heiligen Seiten an die Hand genommen, uns die Augen geöffnet, denn plötzlich standen uns Löwes Aufzeichnungen genauso klar vor Augen wie seine fünf Seiten, plötzlich durchschauten wir ihn, nein, mehr noch, plötzlich gingen wir seinen Weg mit, saßen drinnen im Löwe-Kopf, wussten alles, was er wusste, und flogen durch die nächsten Tausenden von Seiten, konnten ihm folgen, mehr noch, rannten ihm voraus, wussten manchmal schon, was er schreiben würde, entrissen ihm die Geheimnisse, entsetzliche Geheimnisse, aber wir greifen vor, wir müssen uns zügeln, wir können den Ablauf der Dinge nicht ändern.
    Während der Körper-Löwe sich zurückzog, in die Ferne, in eine Höhle, handelte der Geist-Löwe sofort. Er überlegte nicht. Er ließ sich mitreißen. Und dann finden sich in Löwes Aufzeichnungen mit dem Titel zugegen.doc – ein Titel, den wir erst jetzt verstanden, da Löwes Geist zugegen ist und war und sein wird –, es finden sich also Hunderte, nein, Tausende von Seiten Entdeckungen, der unsichtbare Geist-Löwe zerpflückt das menschliche Dasein, indem er es aus unmittelbarer Nähe unbemerkt beobachtet, er lebt wie ein Schatten mit den Menschenwesen, er folgt ihnen auf Schritt und Tritt. Vielleicht ist er ja da , sagte ich plötzlich, vielleicht ist er ja hier ! Jetzt! In diesem Raum! Unter uns! Vielleicht ist er tatsächlich zugegen ! Kurz brannte uns das Herz, wir zuckten zusammen, drehten uns um, suchten den Raum ab nach Zeichen, nach Spuren, wo, sagten wir, soll er denn sein, Kurt Löwe, der Geist-Löwe, die körperfreie Entität, wenn nicht hier, bei den Seinen, bei seinen Jüngern, bei uns, die wir ihn lieben und verehren. Im Stillen beobachtet er uns, als Geist-Löwe nicht sichtbar, während wir seinem Leben, seinen Schriften nachspüren, und jetzt sitzt er vielleicht neben uns und lächelt. Wir hielten den Atem an. Aber es half nichts. Wir mussten weiterlesen, wir mussten herausfinden, was genau geschehen war, nachdem der Geist-Löwe in die Welt getreten war. Was wir erfuhren, griff mit kalten Klauen nach uns und ließ uns noch einmal, ein letztes Mal, näher zusammenrücken. Denn ehe Löwe beschreibt, was genau er tat, tut und tun wird, finden sich seitenweise Beschimpfungen gegen das »Menschengewöll«, gegen die Tretbootfahrer, wie Löwe die Menschen abfällig nennt, Wesen, die Zeit damit verbringen, auf einem See Tretboot zu fahren, Zeitvertilger, schreibt er, Zeitstaubsauger, Zeittöter, Weltvernichter, Weltfresser, und das sind nur die verständlichen Worte, der ganze Sinn der Menschen-Evolution bestehe in der absoluten und endgültigen Vernichtung ihrer selbst, alles, was die Menschen tun, tun sie, um eines Tages sich selbst und alles andere und die gesamte Welt absolut und endgültig vernichtet zu haben, das ist eine Tatsache, dagegen ist nichts zu machen, und das ist der einzige Sinn des Menschen, der Sinn der Selbst- und Weltvernichtung. Sie aber, die Menschen – und das ist das Ekelhafte, das Wurmstichige –, sie tun ständig so, als wollten sie das Gegenteil, als ginge es ihnen darum, das Leben zu erhalten, das Leben zu genießen, das Leben lebenswert zu machen, dabei vernichten sie es zugleich permanent und ohne Pause. Aber nicht die Tatsache der pausenlosen kontinuierlichen Welt-Vernichtung ist das, wofür der Mensch vor Gericht steht (das ist seine Natur, sein Sinn, seine Bestimmung), nein, vor Gericht steht der Mensch wegen seiner elenden Heuchelei, es geht, so Löwe, ganz und gar nicht darum, das Ende der Menschheit abzuwenden, sondern es geht darum, das Ende der Menschheit zu beschleunigen, es geht darum, den Menschen zu helfen, sich selbst und alles andere zu vernichten, es geht darum, ihnen endlich den Atem aus dem Leib zu reißen.
    An dieser Stelle der Aufzeichnungen hielten wir inne, weil wir ahnten, was kommen würde. Nein, schrien wir auf, nicht, Löwe, bitte nicht, schrien wir und klammerten uns aneinander fest, wir ZWEI , und weil wir nicht wussten, was wir tun sollten, schliefen wir miteinander, zum allerersten Mal, schliefen nicht aus Begierde miteinander, sondern aus Angst und weil wir dachten, wenn wir vereint sind, hilft es uns vielleicht zu ertragen, was uns in zugegen.doc erwartet, wir schliefen wie in Raserei miteinander, ohne Kuss, ohne Zärtlichkeit, hart und grob, wie zwei Klötze, die sich ineinander verkloppen, konnten nicht mehr aufhören, bis wir am Ende unserer Kräfte nebeneinanderlagen, nicht satt, sondern ausgezehrt, und es hatte sich

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