Irgendwann ist Schluss
abgeschrieben worden, er, Metzler, werde sie umgehend vernichten und weigere sich, das Honorar zu zahlen. Danach, so vermuteten wir, muss Löwe vorsichtiger geworden sein und länger mit dem Verschicken der fertigen Manuskripte gewartet haben.
Meist waren Löwes Kunden reiche Schnösel, die den Doktortitel brauchten, um Eindruck zu schinden oder in den Firmen ihrer Väter einen leitenden Posten zu ergattern. Insofern zahlten sie gut. Die Themen der Dissertationen waren Löwe völlig egal. Er nahm alles, was im weitesten Sinn mit Geisteswissenschaften zu tun hatte – Kant, Fichte, Aristoteles, Shakespeare, Racine, Poe, Wittgenstein, Duns Scotus, Russell, Bergson –, wild und wahllos. Löwe arbeitete sich wohl zuerst in die jeweilige Thematik ein, indem er die Werke der Dichter und Denker studierte oder besser gesagt aufsaugte (das muss kein Lesen gewesen sein, wie wir es kennen, sondern eher ein »Vertilgen, ein Seiten-in-den-Kopf-Kopieren«, denn wenn er mit den Büchern fertig war, dann »restlos fertig«, dann hatte er »alles aus den Büchern heraus- und in seinen Kopf hineingelesen«). Anschließend sondierte er die von ihm verhasste sogenannte Sekundärliteratur. Er gab der Arbeit eine These, eine Struktur, eine Grundlage, gedankliche Substanz und Tiefe. Erst dann verfasste Löwe die Abhandlung von dreihundert bis fünfhundert Seiten, je nach Lust und Laune. Wenn unsere Berechnungen korrekt sind, hätte Löwe weitaus mehr als jene siebenundsechzig Dissertationen schreiben können, aber er beschränkte sich auf drei Titel pro Jahr, um in der restlichen Zeit seinen eigenen Neigungen nachgehen zu können, über die wir später mehr herausfanden. Jene Neigungen, über die er in seinen Aufzeichnungen mit dem Titel zugegen.doc fabulierte.
Da wir aber anfangs nichts davon verstanden und über dem wirren, knapp 22000 Seiten starken Aufzeichnungskonvolut zu verzweifeln drohten, kümmerten wir uns zunächst um die siebenundsechzig Löwe-Dissertationen, wir verteilten sie untereinander und lasen sie, um das eine oder andere über Löwes Denkweise und damit über ihn selbst herauszufinden, und man muss gleich gestehen, dass wir alle den Dissertationen rettungslos verfielen, wie wir lange nichts Gelesenem mehr verfallen waren. Löwes Dissertationen waren so ganz anders als seine manierierten, nein, unverständlichen, nein, chaotischen Aufzeichnungen mit dem Titel zugegen.doc , sie waren sozusagen das Pendant der Aufzeichnungen, das Weiß gegenüber dem Schwarz, denn es herrschte in den Dissertationen eine an absolute Klarheit grenzende Denkweise, eine verblüffende Exaktheit und Ruhe der Formulierung, viel mehr noch, das Geschriebene verströmte eine Liebe und Hingabe an das jeweilige Thema und zugleich eine ungeheure Spannung, eine Sogkraft, die ganz und gar nicht wissenschaftlich trocken, sondern von lebendiger Frische war. Löwe verfügte über eine so starke Überzeugungskraft in seiner Argumentation, dass man ihm alles glaubte, was er schrieb. Genau!, dachten wir, wenn wir seinen Argumenten folgten, genau so ist es, er hat recht, wir strahlten über die Einsicht, zu der uns Löwe geführt hatte, ehe er in den nächsten Sätzen seine eigene Argumentation als Scheinargumentation entlarvte und zertrümmerte, und zwar mit einer Gegenargumentation, die noch klarer und einsichtiger war als seine vorherige; wir erröteten beim Lesen und schämten uns, dem Autor so leichtgläubig in die Falle getappt zu sein, und wir dachten, wie haben wir das nur glauben können, diese billige Argumentationsattrappe, wie ist es ihm gelungen, uns so geschickt um den Finger zu wickeln? Ja, wir lasen nicht nur die uns jeweils zugeteilten Dissertationen, wir lasen sämtliche . Jeder von uns. Einige Dissertationsjuwelen kannten wir schon aus Studententagen, wir staunten und sagten immer wieder: Also auch diesen Text hat Löwe geschrieben! Als wir alle siebenundsechzig gelesen hatten, bemerkten wir Anzeichen von Entzugserscheinungen. Kurz überlegten wir, von vorn zu beginnen. Wir verfluchten Löwe, dass er nur siebenundsechzig Dissertationen geschrieben hatte. Umso mehr waren wir entrüstet, traurig und entsetzt, als Kurt Löwe auf den Seiten 278 bis 283 seiner Aufzeichnungen mit dem Titel zugegen.doc , an die wir uns wohl oder übel irgendwann wieder setzen mussten, sich über seine eigenen Dissertationen lustig machte, dass er sie verspottete, dass er sie als albernes Kinderspiel verhöhnte, als Brocken, die er den Menschen hinwarf, als
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