Irgendwann ist Schluss
nichts verändert, nur dass wir uns selbst zu hassen begannen, ohne es zu wissen, und weil wir es nicht ertragen konnten, dass wir uns selbst hassten, hassten wir den anderen dafür, dass wir uns selbst hassten. Und wagten endlich den Sprung in die letzten tausend Seiten der Aufzeichnungen, wir wussten ja schon, was uns erwartete, wir dekodierten sein Geständnis, seine Beichte, lasen alles und zitterten, während wir es taten.
Der Geist-Löwe, heißt es, kippte den Menschen Gift in die Gläser, egal wem, nur weg mit den Menschen, weg mit den auf ewig Falschen, weg mit dem Unrat dessen, was geschaffen wurde, weg damit, einer nach dem anderen, siebzehn Morde, siebzehnmal Gift in den Tee, ins Bier, in den Wein, ins Wasser. Der Geist-Löwe sah zu, wie die Menschen tranken. Er sah zu, wie sie den Weg aus der Welt schafften. Keine Beichte ist das, kein Rechenschaftsbericht, es ist eine einzige Jubelarie, die wir lesen, ich, schreibt Löwe, ich habe es geschafft, ich habe es getan, ich habe mit dem begonnen, mit dem irgendwann einmal irgendjemand hat beginnen müssen, ich bin es, dem sie alles verdanken. Und wir haben endlich das Geständnis, welches zu erlesen überhaupt der Grund dafür gewesen war, dass man fünfzehn Denker auf den Fall und auf das zugegen.doc -Dokument angesetzt hatte, wir haben Löwes Eingeständnis, dass er, Löwe, verantwortlich ist für die Giftmorde, die seit einigen Monaten unsere Stadt heimsuchen, wir müssten nur noch zu den Inspektoren gehen und Löwe verraten, dann wäre alles erledigt, der Fall beendet, der Mörder gestellt, und es bliebe nichts übrig als die monströse Aufgabe, den Mörder zu finden. Und SIE , die bislang Teil der ZWEI gewesen war, SIE springt auf, sie sagt, wir haben es, wir müssen es den anderen sagen. Und das war der Moment, da sie das WIR zerstörte, da sie den Pakt zerbrach, den wir geschlossen hatten, der Moment, da sie Löwe einfach so zurücklassen wollte, und der Morgen brach an, und draußen krähte ein Hahn.
Aber ICH lasse es nicht zu, ich wehre mich dagegen, nein, schreie ich sie an, das kann nicht sein, nicht nach allem, was wir gelesen haben, wir können ihn nicht ausliefern, er ist doch kein Mörder, schreie ich, er hat getan, was er für richtig hielt, es geht nicht um den Einzelnen, es geht um die Wahrheit, im Auftrag der Wahrheit wurden die Menschen getötet, es geht um das Verständnis dessen, was Leben heißt, und Leben heißt Enden , es geht um alles, es geht um nichts. Doch SIE will es nicht verstehen, sie denkt, sie könne Löwe immer noch mit dem Maß der Welt richten, sie denkt, sie könne sich über Löwe hinwegsetzen, sie denkt, sie könne sich außerhalb der von Löwe gesetzten Gesetze bewegen. Das geht nicht, schreie ich sie an, und ich hätte so gern gehandelt, ich hätte so gern Gift in ihren Becher geträufelt, ich hätte so gern zugesehen, wie sie den Becher trinkt, denn wenn sie ihn trinkt, dann wird sie verstehen, dann wird sie eingehen, sich auflösen, dann wird sie uns dankbar sein für das, was wir für sie getan haben. Aber ich habe kein Gift, es ist nichts da, und so muss ich stattdessen mit ansehen, wie sie aufsteht und den Raum verlässt und zu den Menschen zurückkehrt. Und nun, allein, bleibt mir nichts übrig, als mich zu beeilen, Löwes Aufzeichnungen zu Ende zu lesen, und ich setze mich hin, und der Augenblick ist heilig. Ich muss alles der Welt mitteilen, das ist meine Aufgabe, ich darf mich nicht selbst vernichten, Löwe braucht mich, ich bin sein Werkzeug, sein Vermittler, und ich sage, wir müssen Löwe verstehen lernen, wir müssen versuchen, uns klarzumachen, welche Kraft und Größe in Löwe steckt, wir müssen den Menschen zurufen, vernichtet euch selbst, es ist das Einzige, was ihr tun könnt, studiert die Aufzeichnungen, nehmt die Aufzeichnungen als Bibel, folgt Löwe in allem, was er tut und sagt, er ist es, der Erlösung bringen kann von den Qualen dessen, was sich Leben nennt, Löwe, Löwe, Löwe. Und ich lese die letzten Sätze seiner Aufzeichnungen, die ich nicht mehr entziffern muss, weil mir seine Sprache inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen ist, weil mir scheint, als hätte ich sie selbst geschrieben, die Aufzeichnungen, weil ich so sehr mit ihm verschmolzen bin, mit Löwe, dass mein Geist keinerlei Anstrengung mehr unternehmen muss, um ihn zu verstehen, ich weiß es, wie Löwe gewusst haben muss, was mit ihm geschieht, noch ehe es wirklich geschah, denn er schrieb im Futur, in seinem eigenen
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