Irgendwann ist Schluss
Kasperletheater. Mein Gott! Wenn wir allein an Wittgenstein denken, an die Wittgenstein-Dissertation, so wird uns warm ums Herz. Niemals hätten wir Philosophen unter den Denkern es für möglich gehalten, dass jemand den geliebten Wittgenstein auf eine so einfache Art aus den Angeln hebt. Jedem noch so feinen Wittgenstein-Zitat antwortete Löwe mit einem noch feineren Löwe-Aphorismus. Allein das Ende der Wittgenstein-Dissertation! Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, hieß der von uns geliebte Wittgenstein-Satz, und Löwe ließ es sich nicht nehmen, diesen Satz zu zertrümmern: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man weinen, schrieb Löwe. Am Schluss einer Dissertation ein solcher Satz! Ein solcher Satz war nur möglich durch die glänzende Vorbereitung, durch die elegante Hinführung, durch die glasklare Beweiskraft, und wir alle weinten, als wir diesen Satz lasen, am Ende vollkommen entrückt.
In den Aufzeichnungen dagegen zeigt sich ein völlig anderes Löwe-Bild. In den Aufzeichnungen sehen wir die Löwe-Fratze. In den Aufzeichnungen zeichnet Löwe seine einzige und eine Besessenheit, die sein gesamtes Leben bestimmt, und wir hassen den Löwe dieser Aufzeichnungen, weil er sein Talent vergeudet, weil er seine Zeit verjubelt, weil er etwas tut, was wir nicht im Geringsten nachvollziehen können, weil er einer fixen Idee folgt, einem Wahn, einer Besessenheit, und wir denken: Wenn dieser Mensch eine Universitätskarriere angestrebt hätte, er wäre ein würdiger Nachfolger Wittgensteins geworden, er hätte endlich die Vakanz gefüllt, die sich nach dem Tod Heideggers, des letzten aller Philosophen, in die Öde unseres philosophischen und geisteswissenschaftlichen Daseins eingeschlichen hat. Löwe wäre nicht weniger als ein neuer Kant geworden, er hätte das menschliche Denken zu einer weiteren kopernikanischen Wende führen und uns erwecken können aus dem schon Jahrzehnte dauernden Schlaf. Stattdessen verpulverte Löwe sinnlos sein Talent, seine Gabe, er zeigte uns allen die Zunge und lachte uns aus. Wir sind nur Krüppel, Geisteskrüppel, wir stochern endlos und ohne Pause im Morast unserer trüben Köpfe, wir können keine originellen Gedanken denken, wir können nichts außer wiederkäuen, was die Geistesgrößen vor uns ausgespuckt haben. Er dagegen hätte ein Messias werden können, hätte ein Denkgott werden können, hätte die Menschheit und das Geschick unseres Planeten bestimmen und bewegen können, aber er hat sich anders entschieden. Für die Besessenheit und gegen die Menschen. Für das Dunkle und gegen die Klarheit. Für die Aufzeichnungen und gegen das wissenschaftliche Arbeiten.
Diese Aufzeichnungen! Er muss sie im Rausch geschrieben haben, es muss aus ihm herausgebrochen sein, er muss sich nicht die Spur darum geschert haben, was die Menschen von ihm dächten, wenn sie eines Tages läsen, was er geschrieben hat, er muss kein einziges Mal selber wieder etwas von dem gelesen haben, was er dort hinschmierte, ja, hinschmierte, oder aber dichtete, wir sind uns nicht einig. Wir haben uns in zwei Lager gespalten. Die einen von uns sind der Meinung, in den Aufzeichnungen komme das wahre Genie Löwes erst zum Tragen, sie behaupten, hier, auf diesen eng bedruckten Seiten, die in einem Schreibtempo verfasst worden sein müssen, das all unsere Vorstellungen übersteigt, hier also finde sich der wahre, der uns allen restlos und vollkommen überlegene Genius, der uns etwas unendlich Wichtiges mitteilen will, sofern wir uns die Mühe machen, ihn zu verstehen; die anderen von uns denken, dass der Wahnsinn sich in diesen Aufzeichnungen einen Weg gebahnt hat, dass die Blumen, die uns in den Dissertationen entgegenleuchten, das Gegenbild darstellen zum Verwelkten, zum Verrotteten seiner Aufzeichnungen. Wir kämpfen. Wir streiten. Wir versuchen, die gegnerische Partei zu überzeugen. Wir haben uns geteilt in die Gruppe der Aufzeichnungsbefürworter und in die Gruppe der Aufzeichnungsgegner. Einige von uns haben lange überlegt, ehe sie zu den Aufzeichnungsbefürwortern wechselten. Sie, das heißt, WIR haben lange gebraucht, den Hass in Liebe zu verwandeln. Die Aufzeichnungen müssen einfach einen Sinn ergeben, sagen wir, die Aufzeichnungsbefürworter, und nur, weil wir den Sinn nicht verstehen, können wir nicht urteilen über einen Mann, der solche Texte verfasst hat. Wir müssen ihn verstehen lernen. Die Aufzeichnungen studieren. Uns ein Bild verschaffen von dem, was in Kurt Löwe
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