Irgendwann ist Schluss
Mensch.«
Gronauer wendet sich wieder zu Koller: »Sagen Sie, haben Sie niemanden erkannt? Draußen. Vorhin. Als Sie durchs Lokal gegangen sind.«
»Wen hätte ich erkennen sollen?«
»Es sind alle da.«
»Wen zum Teufel meinen Sie?«
»Müller-Schönbrunn, Hagen, Leuthäuser, Zieper, Cornelli und Seibert.«
»Was läuft hier eigentlich? Was haben Sie vor?«
»Nichts. Wir sind nur gekommen, um Ihnen Glück zu wünschen für Ihr Leben danach.«
Torge schaltet das Tonband ab, fragt erstaunt: »Alle? Sie sind alle da?«
»Alle«, sagt Gronauer. »Dort draußen.«
Koller ruft jetzt: »Was soll das heißen: für mein Leben danach ?«
Torge: »Das hört sich ja an wie eine Liste Ihrer Bankrott-Opfer, Herr Koller.«
Koller wirft die Serviette auf den Tisch, macht eine Bewegung, als wolle er aufstehen, scheint es sich dann aber anders zu überlegen, legt die Serviette wieder auf den Schoß und isst ganz langsam weiter. »Ich weiß nicht, was Sie bezwecken«, sagt er, »aber ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ein gutes Geschäft ist noch nie liegen geblieben.«
Koller kaut eine Weile und schluckt, und plötzlich redet Gronauer ohne jede Vorwarnung von der Beerdigung und dass es bei der Beerdigung nicht geregnet hat, obwohl er, Gronauer, sich so sehr Regen gewünscht hätte. Denn sein Sohn hat den Regen geliebt. Bei Regen ist er immer rausgelaufen, als kleiner Junge schon, man hat ihm hundertmal sagen können, bleib drinnen, wo es warm ist und trocken, du erkältest dich doch! Aber er ist trotzdem rausgelaufen in den Regen, wo er dann einfach nur dastand, klatschnass, egal, ob es kalt war oder nicht. Und jetzt? Kein Regen. Nichts. Trockene, öde, kalte Sonne. »Ach was«, sagt Gronauer. »Ist ja schon vier Monate her.« Er macht eine wegwerfende Geste, und dabei stößt er versehentlich die Kerze um. »Entschuldigung«, sagt Gronauer.
»Können Sie nicht aufpassen?«, ruft Koller.
»Muss man rausbügeln«, sagt Torge und stellt die Kerze wieder hin.
Koller: »Jetzt machen Sie mal keine Szene, Gronauer.«
Gronauer: »Das sind Zuckungen. Ich kann nichts dafür. Ich bin schon weg. Ich wollte nur ein Minütchen bei Ihnen sitzen. Ihnen Gesellschaft leisten. Ihnen beim Essen zusehen. Ich gehe wieder. Bin schon fort. Noch ein Momentchen, bitte. Bin gleich fort. Wollte nur kurz Hallo sagen, Herr Koller. Ich wünsche was. Ich wünsche was.« Er steht auf, nickt den beiden zu und entfernt sich, immer wieder murmelnd: »Ich wünsche was.«
Koller schaut ihm nach, bis die Tür sich schließt. Dann isst er weiter.
»Was wollen die alle?«, fragt Torge.
»Was weiß ich?«, ruft Koller mit vollem Mund.
»Das kann doch kein Zufall sein.«
»Wenn die denken, die können mich einschüchtern, dann täuschen die sich.« Koller piekt mit der Gabel in die Luft. »Die denken, ich würde jetzt Fracksausen kriegen. Die denken, wenn sie geballt auftreten, in ihrer gesamten … vernichteten Stärke, dann … Aber ich werde ganz ruhig weiteressen. Keine Miene werde ich verziehen. Einen Nachtisch werde ich essen. Einen Kaffee werde ich trinken. Die Zeitung werde ich zu Ende lesen. Und dann, wenn ich das alles getan habe, werde ich gemütlich aufstehen und das Restaurant verlassen. Das werde ich tun. Genau das. Und nichts anderes. Na los, Herr Storch, spielen Sie mir noch mehr von Ihrem Zeug vor. Diese, diese Todessymphonie, heißt das so?«
»Die da draußen stören Sie nicht?«
»Ich will die Spinnen hören!«
»Die sitzen dort, alle versammelt!«
»Ich will die Kakerlaken hören!«
»Die hecken doch was aus!«
»Ich will die Wanzen hören!«
Torge drückt eine Taste. Während sie lauschen, blicken sie sich über den Tisch hinweg an.
»Da!«, ruft Koller.
»Was?«
»Ich hab was gehört.«
»Eine Solostelle«, sagt Torge. »Ausbruch aus dem Chor. Ein Schmetterling-Solo.«
»Ein Schmetterling? Wieso? Ein Schmetterling ist doch kein Ungeziefer!«
»Eine Motte schon! Und außerdem: Wer sagt denn, dass ich nur Ungeziefer töte?«
Koller isst jetzt immer schneller, indem er die restlichen Bissen in sich hineinschaufelt, den Mund abwischt und Wein nachkippt. Er freut sich, dass Evi genau in dem Augenblick eintritt, da er die Serviette neben den Teller legt. Als hätte sie draußen vor der Tür gewartet. Evi fragt, ob es recht war und ob die beiden vielleicht noch ein Dessert wünschten, man habe hausgemachten Apfelstrudel, gepfefferte Erdbeeren auf Eierlikörsorbet, Birne im Staubmantel, Scheiterhaufen mit Orangen und Marzipan.
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