Irgendwann ist Schluss
ich würde so einen Anzug tragen und gleichzeitig im Münsters essen?«
»Kakerlaken!«
»Psst! Sie haben versprochen …«
»Schon gut. Aber wie kann ich denn jetzt noch was essen?«
»Ich hab Sie gewarnt. Sie wollten es ja unbedingt wissen. Aber ich kann Sie beruhigen. Die Viecher sind ausgerottet. Nichts mehr da.«
»Das heißt, das Münsters ist wieder sauber?«
»Sie sagen es.«
»Ich kann unbedenklich essen?«
»Können Sie.«
»Kakerlaken. Sie lügen doch.«
»Ich hab die Wahrheit gesagt. Kammerjäger: Das war schon immer mein Traumjob.«
»Traumjob!« Koller lacht.
»Ich hatte jahrelang Albträume. Ein Erlebnis aus der Kindheit. Hat mich nicht mehr losgelassen. Jahrelang.«
»Was war das?«
»Ich will Sie nicht langweilen.«
»Na, los!«, ruft Koller.
»Gut. Wie Sie wollen.«
Torge hat sein Wachtelherz aufgegessen, tupft sich den Mund ab, schiebt den Stuhl ein wenig nach hinten, schlägt die Beine übereinander und erzählt, während Koller zuhört, vom Schrottplatz seiner Kindheit und vom Tunnel direkt beim Schrottplatz und dass sie als Kinder immer draußen gespielt haben, auf den Feldern, Stoppelschlachten, jeden Herbst nach der Ernte, und hinter den Feldern lag der Tunnel, und da, sagt Torge, hätten sie sich anfangs nie reingetraut, der Tunnel gehörte zum Schrottplatz, und auf dem Schrottplatz dieser Hund, ein riesiger, mörderischer Hund, aber irgendwann musste Torge da rein, eine Mutprobe für ihn, den Jüngsten. Die anderen hatten einen Fußball in den Tunnel geschossen, und den musste Torge herausholen, abends um acht, es war stockdunkel und Torge allein, nur mit Taschenlampe. Am Boden floss ein Rinnsal, schlammig, stinkend, es war still da drinnen, stickig, die Wände tropften, Torge rutschte aus und fiel hin. Sein Schrei warf ein Echo an die Wände, er rappelte sich auf, und dann hörte er sie. Zuerst nur ein Knistern, dann ein Knirschen, ein Knarzen, ein Pfeifen, ein Kreischen, es wurde lauter, er hatte keine Ahnung, was das war, erst die Lampe fing sie ein: Ratten. Nicht eine, nicht fünf, nicht zehn, es waren Hunderte, eine Armee, übereinander, durcheinander, aufgerissene Mäuler, spitze, scharfe Zähne, sie stürzten in Torges Richtung. Er wollte sich aufrappeln, doch schon waren sie da. Über ihm, neben ihm, unter ihm. Aber sie liefen nicht weiter, sie stürzten nicht raus, sie flohen nicht, nein, sie jagten ihm die Zähne ins Fleisch. Nur die Todesangst brachte Torge auf die Beine. Er schüttelte die Ratten ab. Er kroch raus, ohne Fußball. Aber das Schlimmste für ihn war, dass keiner ihm glaubte. Alle sagten: Ratten? Ratten tun so was nicht! Ratten greifen keine Menschen an! Alle sagten: Die haben nur Angst gehabt, die Ratten! Alle glaubten den Ratten. Keiner ihm. »Und deshalb«, so Torge, »wurde ich …«
In diesem Augenblick betritt Evi das Séparée, stellt die Teller vor den beiden ab und sagt: »Die Ente. Das Perlhuhn.«
»Kammerjäger«, flüstert Torge.
»Äh. Guten Appetit«, sagt Koller.
Beide essen eine Weile stumm. Koller lacht in sich hinein und schüttelt ab und zu den Kopf, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hat.
»Es ist eine Kunst«, sagt Torge mit vollem Mund, dabei schaut er Koller lange an.
»Was?«
»Das Töten. Eigentlich bin ich Künstler. Ich töte nicht nur. Ich nehme auch auf. Bevor sie sterben, machen sie Geräusche. Die Tiere. Das Ungeziefer.« Torge legt das Besteck ab, greift zu seinem Koffer, nimmt ihn auf den Schoß, öffnet ihn und holt ein Tonbandgerät heraus. »Hier! Mein Aufnahmegerät«, sagt er. »Hochsensibles Mikro. Nimmt alles auf. Noch den Todesfurz der kleinsten Wanze.« Er stellt das Gerät auf den Tisch.
»Sie sind ja verrückt«, sagt Koller.
»Nein, im Ernst, ich bin Künstler. Musikkünstler. Installationskünstler. Klang-Installationskünstler. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich töte nicht nur. Ich nehme die Geräusche der Tiere auf. Bevor sie sterben.«
»Sie sind ja wahnsinnig.«
»Ratten pfeifen. Kakerlaken winseln. Spinnen fiepen. Wanzen keckern. Man kann es kaum hören. Das Ganze ergibt zusammen eine gigantische Symphonie des Todes. Haben Sie noch nie getötet? Na ja, zumindest indirekt doch schon, oder?« Torge stellt den leeren Koffer neben seinen Stuhl und schaut auf die Uhr. »Der älteste Sohn von Gronauer. Geschäftsführer von Gronauer & Co. Bankrott. Unmittelbar danach der Selbstmord. Fühlen Sie sich da nicht irgendwie …«
Koller legt das Besteck weg, er wird ernst: »Was
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