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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Hochspritzen des Wassers, das Absacken des Flugzeugs, das Verschwinden in den Fluten und die anschließende Ruhe der See, die dort lag wie ein glattes Tischtuch, als hätte jemand gerade ein paar Krümel fortgestrichen. Alles blau und weit und ruhig wie zuvor. Dass ihre Eltern in diesem Flugzeug saßen, verstand Barbate erst viel später. Man versuchte es ihr zu erklären. Als sie kurz darauf selber ein Flugzeug besteigen musste, ein viel größeres, dachte sie, man würde sie den Eltern hinterherschicken. Sie wartete auf das Sprotzen, das Stottern, wartete auf das Neigen des Bugs, auf den Kopfsprung ins Meer. Als dies nicht geschah, sondern das Flugzeug über die Wolken stieg, fragte Barbate eine Stewardess: »Wann fallen wir endlich runter?« Und Barbate wusste nicht, ob sie das Bild, das sie von nun an nachts aufwachen ließ, wirklich gesehen hatte oder ob es nur ein gemeiner Traum war: zwei Särge, die über ein Rollfeld geschoben werden.
    Nach dem Tod der Eltern kam Barbate zu ihrer Tante Lina, die den Rest der Erziehung übernahm. Barbate wurde nach Deutschland gebracht, herausgerissen aus der gewohnten Umgebung, raus aus der Hitze, rein in die Kälte, raus aus der Weite, rein in die Enge. Krasser hätten die Unterschiede nicht sein können. Jo und Helen Limbo hatten ihrer Tochter absolute Freiheit gelassen, keine Verbote, kein ständiges Gelobt- und Getadeltwerden. Hört auf, die Kinder so fest zu wickeln, hatte Rousseau gerufen, sie werden auch ohne Fesseln den aufrechten Gang lernen, wir müssen die Kinder ent-wickeln, hatte er gerufen, und Jo und Helen hätten gerufen, hört auf, die Kinder zu erziehen, sie werden auch so ihren Weg finden, aus sich selbst heraus, wir müssen die Kinder ent-ziehen, hätten sie gerufen, und Barbate hatte nichts so sehr geliebt wie diese uneingeschränkte Freiheit. Doch jetzt, bei Lina Kapellmann, kam sie in den größtmöglichen Erziehungssumpf voller Regeln. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, warum, wenn ich doch keinen Hunger hab, um sieben geht’s ins Bett, warum, wenn ich doch nicht müde bin, da gibt es keine Diskussion, warum, wenn ich’s nicht verstehe.
    Das Kapellmann-Haus lag dem unseren schräg gegenüber. Ich beobachtete das neue Mädchen und war sehr bald schon irritiert, angezogen und überrascht von Barbate. So einen Menschen hatte ich noch nie erlebt. Aber es dauerte einige Jahre, ehe ich den Mut hatte, sie anzusprechen, in der Schule. Wir waren fünfzehn damals, und ich traf mich am Nachmittag mit ihr, Hitze trieb uns nach draußen, wir schwammen im Baggersee, lagen mit nassen Haaren im Gras, und Barbate hatte sich einfach so, ohne Handtuch, aus- und angezogen, sie war das Nacktsein gewohnt, aus Spanien. »Wollen wir in den Schatten?«, fragte ich. Sie nickte. Und auf dem Weg zu den Bäumen nahm ich Barbates Hand, ich blieb nicht stehen, schaute sie nicht an, sondern ging weiter, Hand in Hand mit Barbate, benommen von der neuen Situation, denn sie nahm die Hand nicht weg. Ich war plötzlich erschrocken über mich selbst, suchte nach etwas, das uns ablenken könnte, und da hatte ich die fatalste Idee meines Lebens, als ich Barbate fragte: »Wollen wir auf den Baum da klettern?« Barbate war sofort begeistert. Sie erzählte von den Pinienbäumen in Spanien und dass sie schon lange nicht mehr auf einen Baum geklettert sei. Ich sah ihr nach, wie sie hochstieg. Höher. Und immer höher. Und folgte ihr. Wir setzten uns auf einen langen Ast, der abgestorben war. Aber das fiel uns nicht auf. Wir hatten nur Augen für uns. Saßen dicht beieinander. Es lag ein Zittern in der Luft. Unsere Münder streiften sich, leise, als wollten wir beide noch etwas Platz lassen zwischen den Lippen.
    Ich will nicht von Liebe sprechen. Es ist ein abgenutztes, leeres Wort. Das Wort Liebe ist so oft im Mund geführt worden, es verströmt den faulen Mundgeruch der Menschheit. Ich will von Barbates Begeisterung sprechen. Ihr Blick, wenn sie über etwas nachdenkt. Wie sie Rauch aus den Lippen stößt, als spucke sie Kirschkerne. Wie sich beim Lachen ihre Augenfältchen fächern. Ich will nicht von Liebe sprechen. Das Wort klingt nach Kaffeesatz, alten Lumpen und Zuckerwatte.
    Ein Jahr später, mit sechzehn, am 14. August, an exakt dem Tag, an dem wir zusammengekommen waren, kletterten wir erneut auf den Baum, obwohl es diesmal in Strömen regnete. Verfluchte Rituale: Noch trug uns der Ast, doch im nächsten Jahr, mit siebzehn, waren wir zu schwer: Während ich alles um mich her

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