Irgendwann ist Schluss
schmal, sondern aufgespritzt. Aber ihre Augen täuschten mich nicht: Jetzt, da sie ein letztes Enter in die Tastatur schlug und zu mir aufblickte, war ich mir sicher. Die braunen Augen blitzten nach wie vor. Ich hätte sie gern umarmt, aber dazu fehlte mir der Mut. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie. Sie erkannte mich nicht, auch ich hatte mich verändert in all den Jahren, die zwischen uns lagen, wir mussten uns erst zueinandertasten. Sie wiederholte ihre Frage. Ich räusperte mich. Ich durfte nicht zu lange schweigen. Das Schweigen war ihr vorbehalten. Sie war es, die schwieg im Leben, ich war es, der redete. Ich sagte: »Ich möchte ein Zimmer.« Sie legte ihre Hand sacht auf einen Block Anmeldeformulare, drehte ihn zu mir hin und sagte: »Würden Sie das hier bitte ausfüllen?« Ich sah sie noch einmal an. Dann schrieb ich einen falschen Namen, eine falsche Adresse, und sie griff hinter sich, reichte mir einen Schlüssel. »Zweiter Stock, dort drüben der Aufzug, Frühstück ab sechs Uhr dreißig«, ich drehte mich um und ging, die Tasche im Schlepptau. Ich plünderte die Minibar, aß Erdnüsse, Schokoriegel, Chips, einfach alles, was meinen Hunger nur noch vergrößerte, trank Wodka Lemon, natürlich hatte sie mich nicht erkannt, natürlich nicht. Also musste ich sie neu kennenlernen. Ich dachte nach über meine Möglichkeiten. Mir wurde klar, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr dieses Spiel gespielt hatte, das man spielen musste, um eine Frau zu erobern, ich wusste, dass ich nicht den Mut finden würde, zu ihr hinunterzugehen und den Smalltalk zu beginnen, der einem Schachspiel gleicht, mit dem Ziel, die Dame zu schlagen.
Zehn Tage nach dem Sturz vom Baum kam Barbate zurück in die Klasse. Man hatte nichts Gravierendes feststellen können. Eine Gehirnerschütterung, dicke Beulen, mehr nicht. Zur Kontrolle war sie noch eine Weile im Krankenhaus geblieben. Besuche hatte sie abgelehnt, sie wollte ihre Ruhe haben. Jetzt sah ich sie erstmals seit dem Tag am See. Sie blickte nur kurz in meine Richtung. Setzte sich neben mich, an ihren Platz. »Wie geht’s dir?«, fragte ich. Aber Barbate legte ihren Zeigefinger an die Lippen. Das hatte sie noch nie getan. Als wir uns am Nachmittag trafen, war sie fahrig und abwesend. Ich dachte, das würde vorbeigehen, aber es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Sie sah mich kaum noch an, und wenn, dann war es, als blicke sie durch mich hindurch, oder besser, als blicke sie in einen Spiegel. Meine Fragen musste ich wiederholen, musste sie manchmal sogar an der Schulter berühren, damit sie wie aus einer anderen Welt zurückfand. Sie redete immer weniger, bis sie schließlich ganz verstummte, ihr Blick glasig, ihre Augen nur noch halb geöffnet, auch ihre Körpersprache immer spärlicher, Ende der Gesten, Ende des Elans, Ende der Barbate, die mich mit ihrem Schwung so berührt hatte. Ich wusste nicht weiter.
Später fuhren wir mit dem Deutschkurs nach Freiburg, übernachteten in der Jugendherberge, der Donnerstag stand zur freien Verfügung, und Barbate fragte mich: »Kommst du mit auf den Schauinsland?« Ich nickte sofort. Ich schöpfte Hoffnung: Sie redete! Sie fragte mich etwas! Vielleicht war der Spuk ja bald vorbei, dachte ich. Aber das Gegenteil geschah. Wir packten uns warm ein, es war ein nebliger Tag. Barbate trug dicke Schuhe, eine hautenge Lederhose, einen Schweizer Armeemantel, gestrickte Handschuhe, Schal und Wollmütze. Als wir im Bus saßen, spürte ich ihren Oberschenkel an meinem. Ich hatte das Gefühl, sie lehne sich zu mir. Aber wahrscheinlich täuschte ich mich. An der Talstation der Schauinslandbahn sagte Barbate, sie wolle lieber zu Fuß gehen. Es war zehn Uhr. Das Frühstück rumorte in meinem Magen. Wir wanderten los. Ich hatte die falschen Schuhe an, und nach einer Stunde tat mir jeder Schritt weh, wir atmeten hart. Die Tannen standen aufrecht. Vögel waren keine zu hören. Windstille. Kein Rauschen, nur das Knirschen unserer Schritte auf dem Pfad mit den winzigen Steinchen. Auf den letzten Metern durchbrachen wir den Nebel. Wie ein Flugzeug, das beim Aufstieg die Wolken unter sich zurücklässt. Wir stellten uns neben das Gipfelkreuz. Als ich mich einmal um mich selbst gedreht hatte, stand Barbate vor mir. Ganz nah. Sie nahm mich in den Arm. Wir standen dort, und sie brauchte nichts zu sagen, ich wusste sofort, dass es endgültig und unwiderruflich vorbei war mit uns. Ich verstand nur nicht, weshalb sie sich trennte. Und ich fragte mich, in der
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