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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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vergaß, den Baum, den See, die Sonne, während ich nur noch in den Lippen und der Zungenspitze steckte, nahm ich das Knacken nicht wahr im morschen Holz, Barbate auch nicht. Und dann brach der Ast. Ich klammerte mich irgendwo fest und erwischte im letzten Augenblick Barbates Fuß. Sie baumelte drei Meter über dem Boden. Ihr Fuß steckte in einem hellen Leinenschuh. Ich blickte nach unten, ihr Rock hatte sich über die Hüfte gestülpt. Neben dem Baumstamm lagen unsere Handtücher. Dann rutschte ihr der Schuh vom Fuß, und Barbate stürzte. Ihr Rock, ihre nackten, strampelnden Beine, ihre Hände, die instinktiv nach unten griffen, nach der Luft unter ihrem Kopf. Ich hatte den wahnwitzigen Gedanken, hoffentlich fängt das Handtuch den Sturz. Da schlug sie mit dem Kopf auf. Ich ließ den Schuh fallen, kletterte runter, kniete mich neben sie und gab ihr Ohrfeigen. Sie war bewusstlos, ich nahm sie auf die Arme, lief oder stolperte vielmehr aus dem schattigen Dickicht zu den anderen Badenden, die sich auf der Wiese fläzten. Ein Mann fuhr uns ins Krankenhaus. Barbate wurde auf eine Trage verfrachtet und durch weiße Gänge gekarrt wie ein Sack Gips, hinter eine Milchtür, durch die man mich nicht ließ. Ich wartete. Und Barbate? Hätte tot sein können. Oder für immer gelähmt. Es hätte sonst was geschehen können. Aber es geschah ganz was anderes. Etwas überaus Seltsames. Etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Ich am allerwenigsten.
    Jetzt saß ich im Auto und folgte ihr, merkte, wie meine Finger sich verkrampften, je näher ich dem Ziel zu kommen schien, überholte mit Barbate Limbo Lastwagen, Kleinwagen, langsame Wagen, überholte die Vergangenheit, fuhr in die Zukunft, in die Gegenwart, in die Wirklichkeit, ins Leben, zu ihr, zu Barbate. Ich wusste noch nicht, wie ich mich, wäre Barbate einmal am Ziel, ihr nähern und wie sie reagieren würde, ich wusste nur, dass ich sie sehen musste, dass ich sie mein ganzes Leben lang, ohne es zu wissen, gesucht hatte. Ich fuhr, und alles wurde weiter, offener, die Hügel des Südens verschwanden, das Mittelgebirge tauchte auf und legte sich wieder, die Landschaft breitete sich vor mir aus wie ein Tuch, der Himmel wurde größer, der Horizont, die Weite, dann verließ Barbate die Autobahn. Sie machte keine Pausen, ich weiß nicht, woher sie die Kraft nahm, mein Knie schmerzte vom steten Druck aufs Gaspedal, wir umkurvten Städtchen, fuhren über Landstraßen in ein Dorf, das ihr Ziel war, denn sie hielt an. Dort stand ihr Haus. Ich stoppte in einiger Entfernung auf der Straßenseite gegenüber, drehte den Zündschlüssel, der Wagen schnappte nach Luft, und ich hörte ein Knacken der Motorhaube. Ich wischte mir durchs Gesicht. Barbate nahm zwei Koffer aus dem Wagen, ging ins Haus, ohne mich zu bemerken. Licht. Ich wartete. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich öffnete das Handschuhfach, zog eine angebrochene Rolle Minzbonbons hervor und aß sie leer. Ich blickte auf mein stumm gestelltes Handy: jede Menge eingegangene Anrufe. Ich stieg aus, dehnte meine Beine, nahm die SIM -Card heraus, zerbrach sie, setzte mich wieder ins Auto, tat nichts, und dann erloschen die Lichter im Haus. Ich dachte schon, Barbate hätte sich schlafen gelegt, aber die Haustür öffnete sich, und sie trat hinaus. Verdammte Dunkelheit. Ich sah nur Schemen. Die nächste Laterne stand viel zu weit weg. Barbate stieg in ihren Peugeot und fuhr los. Ich folgte ihr. Versuchte, einen gewissen Abstand zu halten. Sie fuhr in die nahe gelegene Stadt. Hielt auf einem Hotelparkplatz. Im Vorbeifahren sah ich, wie sie ins Hotel ging. Ich stellte den Wagen ab, sammelte meinen Mut, näherte mich langsam, die automatische Tür des Hotels schnappte auf, ich zuckte zusammen und trat ein. Dort saß sie. Barbate Limbo. An der Rezeption. Sie ordnete irgendwas, blickte kurz in meine Richtung, sah wieder auf den Monitor. Ich ging die letzten Meter zu ihr hin. »Eine Sekunde«, sagte sie und tippte noch ein wenig.
    Barbate.
    Sie war es.
    Natürlich hatte sie sich enorm verändert. Keine schwarzen Stoppelhaare mehr, sondern lange, blonde Haare, sie hatte sie wachsen lassen und gefärbt; keine kleinen Brüste mehr, sondern ausladende, eine Operation; nicht mehr schlank, sondern eher füllig, an der Grenze zu dick, sie war keine achtzehn mehr, sondern so alt wie ich: dreiundvierzig; ihr Teint nicht mehr braun von der Kindheitssonne, sondern käseweiß, kein Wunder, wenn sie als Nachtportier arbeitete; die Lippen nicht mehr

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