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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Jugendherberge, als ich nicht schlafen konnte, warum ich sie nicht zur Rede gestellt hatte, auf dem Weg hinab. Warum ich mich ihrem Schweigen einfach angeschlossen hatte. Ein Teil von mir steht immer noch auf dem Schauinsland und blickt hinunter.
    Am nächsten Morgen war Barbate verschwunden.
    Monate später erhielt ich ein Päckchen mit zwanzig eng bekritzelten Papieren. Als Absender hatte Barbate nur ihren Namen angegeben. Keine Adresse. Ihre Schrift war krakelig, bei manchen Worten brauchte ich lange, um sie zu entziffern. Nach ihrem Sturz vom Baum war Barbate im Krankenhaus aufgewacht mit dem Gefühl, etwas hätte sich in ihrem Kopf verschoben: Das, schrieb sie, sei genau das richtige Wort. Als hätte ein innerer Zwerg einen Teil ihres Gehirns zur Seite gewälzt, um etwas Darunterliegendem Platz zu machen. Dieses Darunterliegende erwachte, räkelte sich, streckte seine Fühler aus und tastete nach Essbarem. Barbate wählte Bilder, die ich nicht verstand. Es geschah etwas Merkwürdiges: Barbate erinnerte sich. Schon im Krankenhaus begann es. Aber sie erinnerte sich nicht so, wie man sich gewöhnlich erinnert: schwach, kurz, zuckend, in schnell wechselnden Bildern und flüchtig hingeklecksten Gedankenstrichen, nein, Barbate erinnerte sich ausführlich. In einer Genauigkeit, die sie erschreckte. Sie erinnerte sich mit allen Sinnen, so, als erlebe sie alles noch einmal: An ihrem siebten Geburtstag fingen ihre Haare Feuer, als sie die Kerzen auf dem Kuchen auspustete. An ihrem fünften Geburtstag sang Jo ein Lied für sie und schlug so auf die Gitarre ein, dass er sich einen Fingernagel einriss und fluchte. An ihrem dritten Geburtstag pflückte Barbate eine flaschendeckelgroße Spinne aus ihrem Netz, schob sie in den Mund, ließ sie eine Weile auf der Zunge laufen und schluckte sie. An ihrem ersten Geburtstag setzte sich eine Mücke auf ihr Ärmchen und tauchte den Rüssel in ihre Haut. Sie erinnerte sich an den hölzern-kernigen Geruch ihres Zimmers, an Helens Vanilleatem, an den Algenduft des Meers nach einem der seltenen Regengüsse. Sie erinnerte sich an die Hitzeperlchen auf der Haut, an das winterliche Kratzen ihres Rollkragenpullovers, an das Drücken ihrer neuen Turnschuhe. Sie erinnerte sich an das Krähen der Grillen, an die Barmusik in der Kneipe, an das aufgeschreckte Knacken des Holzes im Wohnzimmer. Ihr war, als gehe sie rückwärts, als suche sie alle Stätten, Gerüche, Geräusche und Empfindungen ihrer Kindheit ab, Meereskälte an den Füßen, Sandsohlen, Muschelrinden wie abgebissene Fingernägel.
    Barbate durchlebte alles noch einmal. Schrieb auch nicht mehr von Erinnerung, schrieb nur noch von Neudurchleben. Sie wollte nichts anderes nach ihrem Sturz vom Baum. Vor allen Dingen wollte sie nicht sprechen. Von Anfang an hatte sie Angst, das Sprechen würde sie wegbringen von sich selbst und von etwas, das es zu finden galt. Sie wollte bei sich bleiben. Sie zog die Erinnerung der Wirklichkeit vor. Das innere Sehen dem äußeren. Und dann saß Barbate eines Tages in ihrem Zimmer und durchlebte noch einmal den Absturz des Flugzeugs, in dem ihre Eltern gesessen hatten, nur diesmal wusste sie, dass ihre Eltern drinnen saßen, und der Hals schwoll ihr von innen an. Sie sah, spürte und roch alle Einzelheiten des Unglücks, nur war jetzt das Erleben begleitet von Gewissheit. Der Schmerz wurde so groß, dass sie sich zusammenkrümmte. So lange lief Wasser über ihr Gesicht, bis nichts mehr kam und sie trinken musste vor Durst und Erschöpfung. Der Schmerz verschwand aber nicht. Das Weinen hatte seine reinigende Kraft verloren. Als die Qual zu groß wurde, als ihr ganzer Körper wie verbrannt in ihrem Zimmer lag, sagte Barbate plötzlich laut zu sich selbst: Es ist an einem Donnerstag passiert. Warum an einem Donnerstag? fragte sie sich. Und sie sagte laut: »Das kann man doch riechen.« Der Samstag roch nach Gartendreck, der Sonntag nach trockenem Brot und Obstsalat, der Montag nach zerwühltem Bett, der Dienstag nach Terpentin, der Mittwoch nach heißem Milchreis, der Donnerstag nach der Glut eines erloschenen Feuers, der Freitag nach frisch frisierten Haaren. Das tat ihr unglaublich gut. Sie beruhigte sich. Sie zweifelte nicht daran, dass sie recht hatte mit der Bestimmung der Wochentage. Sie wusste es einfach. Nur wusste sie nicht, weshalb sie es wusste. Und irgendwann schlug sie aus Neugier in alten Kalendern nach und erschrak über die absolute Genauigkeit ihrer Erinnerungen. Fortan verbrachte sie ganze

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