Irgendwann passiert alles von allein
lächelte. Sam reagierte nicht, seine sonnenbebrillten Augen blickten irgendwo in Richtung Straße.
»Du bist völlig ausgetickt«, sagte Leo und klopfte Sam auf die Schulter.
|157| Sina hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben und murmelte, was für Idioten wir seien. In diesem Moment sah ich eine Gestalt die Straße entlanghumpeln. Sie zog den rechten Fuß hinterher. Es war Schenz. Er setzte sich zwischen Sina und mich und sagte: »Arschlöcher.«
»Was ist mit deinem Bein?«, fragte ich.
»Nicht so schlimm«, er zwinkerte mir mit seinem unverletzten Auge zu. Das andere war mittlerweile schwarz umrandet. Sina blickte ihn nicht einmal an. »Der verdient so viel im Monat, wie ich in der Tasche habe, und muss seine Minderwertigkeitskomplexe an der Tür ausleben.«
Sina schluchzte. Sie nahm ihre Hände vom Gesicht, es war rot, Tränen liefen ihre Wangen hinab.
»Du bist der größte Idiot von allen!«
Schenz antwortete nicht. Verlegen blickte er immer wieder auf die Uhr an seinem Handgelenk und strich die Regentropfen vom Ziffernblatt.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Wir fahren ins Babalu«, sagte Leo.
»Baba-Babalu?«
»Ist in Schwabing. Der Zafko ist da heute Abend auch.«
Sina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Schweigend gingen wir die Treppen der Unterführung runter. Der Bahnsteig war leer, nur in einem Häuschen drängten sich ein paar türkisch aussehende Jugendliche zusammen. Zwei von ihnen bearbeiteten mit Fußtritten den Fahrscheinautomaten. Keiner von uns wollte noch mehr Ärger, deswegen blieben wir mit |158| einigen Metern Sicherheitsabstand im Regen stehen. Nach etwa zehn Minuten erkannte ich mit zusammengekniffenen Augen in der Ferne zwei langsam größer werdende Lichter.
Nichts war trister in diesem Moment als das Halogenlicht eines leeren S-Bahn -Waggons. Wenigstens fuhr der Zug in die richtige Richtung. Sam und ich setzten uns gegenüber von Leo und Sina. Da kein Platz mehr bei uns frei war, musste sich Schenz in die Sitzreihe neben uns setzen. Sam starrte gebannt auf die sich in die Länge ziehenden Regentropfen, als könne er darin geheime Botschaften lesen. Ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, dann wieder steigerte sich das Gebrabbel in eine Art Zischen und das klang wirklich komisch.
»Mann«, Leo schlug ihm mit der flachen Hand auf sein Knie, »was laberst du?«
Sam riss die Augen auf, als hätte ihm jemand aus einer anderen, sich immer weiter entfernenden Welt etwas zugerufen. Er antwortete nicht und einen Moment später konzentrierte er sich wieder auf die Regentropfen an der Scheibe. Es war nicht so, dass Sam mir auf die Nerven ging, er wurde nur immer eigenartiger. Aber eigenartige Leute können ja auch lustig sein. Wir lachten jedenfalls auch oft über Sam, er war so eine Art Maskottchen.
Wir wechselten am Marienplatz in die U-Bahn und stiegen an der Giselastraße aus. Der Regen hatte aufgehört, ich genoss das Spiel der roten, gelben, weißen und blauen Lichter in den Pfützen, das Hupen der |159| Autos, die Gesprächsfetzen der vorbeilaufenden Menschen, die hohen Bäume am Straßenrand, das leuchtende Angebot einer Eisdiele und des McDonald’s.
»Ist die Saft-Szene hier«, sagte Leo. Saft, erklärte er, sei Jargon für Codein, worauf viele Heroin-Junkies irgendwann landeten, das wisse er alles vom Zafko. Schenz griff nach Sinas Hand, doch sie zog sie weg.
Das Babalu lag an der Leopoldstraße. Vor der Kellertreppe drängte sich eine Traube, alle waren zwei oder drei Jahre älter, was den Laden nur noch interessanter machte. Wir vergaßen, was geschehen war. Wir hatten einen Gipfel erklommen. Wir waren in der Stadt, die ehemals verschlossenen Türen standen uns offen. Wir konnten ja bezahlen.
Der Türsteher musterte uns zwar mit einem abfälligen Blick, ließ uns aber, nachdem er Sina als Teil unserer Gruppe registriert hatte, hinein. Leo bezahlte für uns alle, ein junges Mädchen drückte jedem von uns gelangweilt einen Stempel aufs Handgelenk. Wir stiegen die enge Treppe hinunter, gingen an Toiletten und Garderobe vorbei. Ich spürte den Bass in meinem Brustkorb vibrieren. Die Luft war Dampf, Schweiß, Parfüm, Rauch. Fremde Haut, die meine streifte.
Leo ging an die Bar und kam mit fünf Tequila zurück. Er bestand darauf, dass wir zunächst Salz auf unsere Handrücken streuten und sie ableckten. Wir stießen an und ausgerechnet in diesem Moment schubste mich jemand von hinten und die Hälfte des Schnapses schwappte über meine Hand.
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