Irgendwann passiert alles von allein
beachtete mich nicht weiter. Ich erinnerte mich an mein ursprüngliches Vorhaben und ging auf die Toilette. Die Dinge gerieten in Bewegung. Ich musste mich am Türrahmen festhalten.
Als ich vom Pissen zurückkam, stand Leo bei den Waschbecken.
»Ich krieg jetzt auch Pillen vom Zafko«, sagte er. »Verstehst du, kein Gras mehr. Gras ist Kinderkacke. Wir steigen gleich ins große Geschäft ein.«
Ich wusch mir mein Gesicht mit kaltem Wasser.
»Und dann kaufen wir ein Haus in der Karibik«, sagte ich beiläufig.
»Oder in Indien! Da kann man für zehn Mark am Tag leben wie ein König. Wir kaufen uns ein Haus und leben vom Verticken: Du, ich, Schenz, Sina, Suse, Sam.«
»Indien-Suse?«, fragte ich.
»Ja. Ich war gestern bei ihr.«
»Was habt ihr gemacht? Ging was?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, wir haben nur gekifft. Sie hat mir viel von indischen Göttern erzählt. Das ist echt interessant. Hast du gewusst, dass Ganesha zum Beispiel, das ist der mit dem Elefantenrüssel, dass Ganesha …«
»Ich glaube, Sam geht’s nicht gut«, unterbrach ich ihn. »Er hat gerade irgendwas von Frauen gefaselt, die uns verfolgen.«
Leo sah mich durch den Spiegel an.
|164| »Muss sich nur mal locker machen. Das sage ich ihm schon seit Monaten.«
»Er benimmt sich aber ziemlich seltsam …«
»Jetzt stell dir das mal vor: Wir könnten schon im Herbst nach Indien. Suse hat mir erzählt, ihr Vater lebt dort in Goa. Dann wohnen wir alle zusammen. Wir können den ganzen Tag kiffen, essen und dann mal kurz im Meer schwimmen! Wenn wir genug mit Drogen verdient haben …«
»Vielleicht müssen wir mit Sam irgendwas machen, ich meine, vielleicht muss er zum Arzt oder so«, sagte ich.
»Klar helfen wir Sam. Wir halten zusammen.«
Er hielt mir die Hand hin, damit ich einschlug. Dann umarmten wir uns.
Ich sagte »Indien«, weil Leo recht hatte und diese Indien-Sache vielleicht gar keine schlechte Idee war.
Dann ging ich an die Bar und bestellte weiter Bier, Limes und irgendwann auch einmal ein Glas Wein. Ich trank abwechselnd mit Leo, dem wortlosen Sam und irgendwelchen Fremden, die ich stets einlud. Ich hörte auf nachzudenken.
|165| Sechzehn
Ich räusperte mich noch einmal, als ich die Klingel drückte. Eine halbe Minute später stand sie vor mir. Sie trug ein weißes Top und Jeans. Sie sagte: »Komm rein.«
Ich zog die Schuhe aus, im Haus roch es nach Weichspüler und Katzenfutter. In Tennissocken stieg ich die mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Ihr Zimmer war klein: ein Schrank aus Kiefernholz, ein kleiner, aufgeräumter Schreibtisch, daneben ein kleines Tischchen vor einem Spiegel, auf dem Parfüms und Schminkutensilien standen, eine Couch mit Fernseher und ein schmales Bett, bezogen mit einer blauen Satin-Bettwäsche. Ich war noch nie bei ihr daheim gewesen. Sie hatte mich angerufen und gefragt, ob wir zusammen Video schauen sollen. Ich hatte Ja gesagt. Natürlich hatte ich mich gefragt, was Schenz wohl dazu sagen würde, wenn er es wüsste. Aber gegen Videoschauen war nichts einzuwenden, zusammen Videoschauen war schließlich kein Betrug. Und außerdem wusste Sina bestimmt eh besser als ich, was Betrug war und was nicht. Schließlich war sie es, die einen Freund hatte.
Ich setzte mich auf die Couch und Sina begann, an dem Videorekorder herumzudoktern. Sie drückte |166| Knöpfe, nestelte an Steckern und Anschlüssen herum und fluchte leise. Dann setzte sie sich neben mich. Sie saß kerzengerade und legte die Hände auf die Knie.
»Es klappt gar nichts, ich kann nicht einmal einen Videorekorder bedienen«, sagte sie.
Ich bot ihr an, mal nachzusehen, weil ich mich mit Videorekordern tatsächlich gar nicht so schlecht auskannte, weil Leo und ich früher, als er noch daheim gewohnt hatte, wirklich viele Splatterfilme geschaut hatten, ›Braindead‹ zum Beispiel, und … jedenfalls wollte ich aufstehen, doch sie hielt mich am Handgelenk fest. Ich ließ mich zurück auf die Couch fallen.
»Mein ganzes Leben ist ein Müllhaufen!«
»Warum das denn jetzt?«
»Nächstes Jahr muss ich die Klasse wiederholen. In einem Jahrgang mit lauter Kindern! Das wird der totale Horror.«
»Aber ich dachte, das macht dir nichts aus. Du …«
»Und mein Freund ist ein Idiot«, unterbrach sie mich.
Sie hatte Tränen in den Augen. Sie sagte noch mal, dass Schenz ein Idiot sei und dass, seitdem er sie geschlagen hätte, alles anders wäre. Das ließe sich nie wieder reparieren. Außerdem würden sie ohnehin nicht
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