Irgendwann werden wir uns alles erzählen
ich bin sechzehn. Thorsten Henner und Maria Bergmann. Es war keine Vergewaltigung, obwohl alles danach aussieht. Doch nun herrsche ich über ihn. Aber einer wie der Henner lässt sich nicht von einer Sechzehnjährigen beherrschen.
Das begreife ich plötzlich. Ich suche seinen Blick, der jetzt unruhig im Zimmer umhergeht, und kriege ihn nicht zu fassen. »Nein, Henner, niemand weiß es, niemand, wirklich nicht«, sage ich zu ihm. »Und ich werde es auch niemandem sagen. Das werde ich ganz sicher nicht!« Er sieht mich jetzt durchdringend an, versucht in mir zu lesen, doch er glaubt mir nicht. »Du musst es versprechen, Maria!«, sagt er und packt mich an den Schultern, und ich nicke schnell und antworte: »Ja, ja, ich versprech’s!«
Dann geht er aus dem Zimmer, und ich stehe da, allein; doch er kommt noch einmal zurück, mit einer Salbe in der Hand. Die streicht er mir auf die Stellen am Hals, und dann küsst er sie noch, diese Stellen, die verräterischen Male seiner Schuld, die doch nicht nur seine war. Und mit jeder seiner Berührungen ist es mir, als sähe ich mich durch seine Augen. Ein Mädchen, dunkelblond mit langem Zopf, nicht sehr groß, schlank, aufrechte Schultern, ernstes Gesicht. Eine schmale Nase, der Mund klein, doch die Lippen voll, die Augen groß, sehr hell, bei Sonnenschein ganz grün.
Als ich gehen möchte, bittet er mich zu warten. Ich streife ein wenig durch die uralten Räume, die Hunde begleiten mich misstrauisch; sie sind es nicht gewohnt, den Herrn zu teilen. Vor einem Glasschrank mit Wäsche bleibe ich stehen. Der Henner ist nun wieder hinter mir, steckt mir einen Zettel zu und legt seine Arme um mich. Die Stille in diesem Haus ist größer als sonstwo. Ein Knurren der Hunde, knarzende Dielenbretter, sein schweres Atmen – mehr höre ich nicht. Es gibt Geräusche, die stehen in keinem Zusammenhang mit der Zeit. So ist es hier beim Henner. Ich lehne mich an ihn, und er fragt mich: »Was liest du eigentlich gerade? Die Marianne sagt, du würdest viel lesen …«
»Die Brüder Karamasow« , sage ich und bin nicht wenig stolz, dass es gerade dieses Buch ist.
»Wen magst du lieber, Katarina Iwanowna oder Gruschenka?«, will er wissen, und ich antworte ihm, ohne zu zögern: »Gruschenka.«
»Warum Gruschenka?«
»Weil sie leidenschaftlich ist. Und ehrlich. Ich glaube, Katarina Iwanowna liebt Dmitri eigentlich gar nicht. Sie ist eine Heuchlerin.«
Er lacht und sagt: »Das war eine gute Antwort, Maria. Die beruhigt mich.«
*
Auf dem Brendel-Hof werde ich bereits erwartet. Sie sitzen längst am Mittagstisch, und Frieda sagt, als ich zur Tür hereinkomme: »Ja, wo war sie denn so lang? Alle haben schon nach ihr gesucht.« Ich nehme es als Zeichen echter Zugehörigkeit; man hat mich vermisst, ich bedeute etwas. Das fühlt sich gut an. Zur Antwort murmele ich etwas von müde gewesen und spazieren gegangen, doch es ist nur der Alfred, der mich prüfend ansieht. Hartmut und Siegfried sind ins Gespräch vertieft. Vor allem Hartmut hat viel zu erzählen, von den schwierigen Anfängen in Bayern, dem Studium, dem Ingenieursabschluss und der ersten Anstellung bei einem Bauunternehmer, schließlich der Gründung des eigenen Planungsbüros und der Heirat mit Gisela, einer Lehrertochter aus Garmisch-Partenkirchen. Er traf sie auf einer Berghütte beim Skifahren, sie sind nun fast zehn Jahre zusammen. Die Kinder waren Wunschkinder, und Gisela muss nicht arbeiten gehen. Das interessiert vor allem die Marianne, die Johannes schon mit acht Wochen in eine Krippe geben musste und damals tagelang furchtbar geweint hat deswegen. Das war normal, und es war zu der Zeit, als sie noch in der Stadt gearbeitet hat. Die Marianne stammt nicht vom Dorf. Der Siegfried hat sie bei einem Tanzabend in der Kreisstadt kennengelernt. Ihre Eltern waren beide im VEB Papierfabrik, wo auch Marianne im Schichtdienst arbeitete.
Als Lukas kam, war sie längst auf dem Hof eingespannt. Es muss Jahre gebraucht haben, bis sie sich an das Bauernleben gewöhnt hatte. Die Frieda hat dem Siegfried damals schwer abgeraten. Stadtfrauen würden niemals richtige Bäuerinnen, sagte sie, obwohl sie doch selbst mit einem Lehrersohn verheiratet gewesen war. Viel Zeit für das Baby hat Marianne jedenfalls wieder nicht gehabt, aber in die Krippe hat es nicht gehen müssen. Frieda kümmerte sich, so oft es ging, um den Kleinen, und selbst Alfred übernahm manchmal Babydienste. Er ist eben doch eine gute Seele, wie die Frieda gerne sagt. Doch
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