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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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sicher bin ich mir da nicht.
    Links von mir sitzt Johannes mit der Kamera, rechts der Alfred, mit vollem Mund. Er hat so eine Art zu essen, die mich furchtbar abstößt, doch aus irgendeinem Grund wird ihm alles nachgesehen, sogar das laute Schmatzen und dass er mit dem Kopf fast den Tellerrand berührt. So seien die Wege kürzer, und es fiele nicht so viel herunter, meint die Frieda dazu. Es gibt noch so vieles in der Familie Brendel, das ich nicht verstehe.
    Hartmut jedenfalls hat es drüben geschafft. Er hat ein Büro mit zwei Angestellten, ein eigenes Haus mit Garten, einen Mercedes, eine nette, wenn auch etwas empfindliche Frau – das sieht man daran, dass sie die schwarzen Fingernägel vom Alfred im Visier hat und ganz das Essen darüber vergisst – und zwei gesunde Kinder, denen »etwas der Schliff fehlt«, wie später die Marianne behaupten wird. Frieda lässt ihn nicht aus den Augen und füllt gleich nach, wenn sich sein Teller langsam leert.
    Wohnen werden sie auf Friedas Etage. Es gibt sechs Zimmer auf der Etage, zwei für den Alfred, die anderen vier für Frieda. Reichlich Platz also. Er kommt mir gerade zur rechten Zeit, dieser Besuch. Er hilft mir, mein Geheimnis zu bewahren. Am Abend gibt es ein großes Gewitter, da sitze ich am Fenster und sehe hinüber zum Henner-Hof. Ganz dunkel ist es dort.

Kapitel 7
    AM NÄCHSTEN MORGEN ist die Luft so kühl und frisch wie seit Wochen nicht mehr. Mein Tuch um den Hals hat vollste Berechtigung. Johannes verschwindet gleich nach dem Frühstück in der Dunkelkammer und kommt nicht einmal zum Mittagessen heraus. Er legt eine Besessenheit an den Tag, die uns, vor allem der Marianne, zu denken gibt. Neben den Bildern der toten Kinder hängen jetzt Bilder vom Hof. Alles hat er fotografiert: den Alfred beim Stallausmisten, die Marianne, wie sie die Hühner füttert, Siegfried im Sägewerk, die Rinder auf der Weide, die Schafe, die Gänse, die Hühner, Frieda am Fluss, wie sie aufs Wasser schaut, Frieda am Tor, wie sie die Straße entlangsieht. Und immer wieder mich.
    Wir reden kaum noch miteinander, immer heißt es: »Jetzt ist das Licht gut, setz dich mal dort hin. Nein, nein, nein, nicht so, den Blick nach rechts. Nein, Maria, den Blick! Nicht den Kopf!« Johannes sieht mich eigentlich gar nicht mehr, er sieht nur noch Bilder.
    Noch vor wenigen Tagen hätte ich alles getan, um seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Ich hätte geredet, umgarnt, getobt, was man so tut, wenn der Liebste sich abwendet. Doch jetzt verhalte ich mich still, überlasse ihn scheinbar großzügig dem Zauber seiner neuen Leidenschaft, bin ganz gleichgültig dagegen. Mein einzig echtes Interesse gilt dem Mann auf dem Nachbarhof.
    Ich schlendere über den Hof, den Zettel in der rechten Hand. Der Alfred schlurft an mir vorüber in den Stall. Ein Blitzen kommt aus seinen kleinen Augen, die Wangen sind eingefallen wegen der fehlenden Zähne. Als er verschwunden ist, lese ich die Nachricht. Diesmal war kein Umschlag dabei. Es ist derselbe Zettel, der mit dem Satz: »Nachts lag er wach und war gierig nach ihr und bekam sie.« Darunter hat er geschrieben: »Morgen hole ich dich!«
    Morgen – das ist heute. Nun ist meine Ruhe dahin.
    Unten im Laden stehen Marianne und Gisela. Sie scheinen sich anzunähern, reden über die Kinder und über die zwanzig Jahre ohne Familie, die niemand dem Hartmut wiedergeben kann. Ich lasse sie allein. Es gibt Dinge, die sind so schwer sagbar, da ringt man um jedes Wort, da störe ich nur.
    Draußen sehe ich Hartmut. Er trägt einen von Siegfrieds blauen Arbeitsanzügen und geht rüber zum Sägewerk. Die Kinder folgen ihm jubelnd. Es muss ein großes Abenteuer für sie sein.
    In der Küche sitzt Frieda mit Volker. Sie hat ihn aus der Stadt geholt, weil der Hartmut auch seinen anderen Bruder sehen wollte. Doch das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Der Volker hat ihn kaum ansehen können, und dem Siegfried geht er schon lange aus dem Weg. Mich scheint er gar nicht wahrzunehmen. Sein stumpfer Blick wird nur lebhaft, wenn etwas zu trinken auf den Tisch kommt. Ich bringe den Volker allenfalls mit dem Alfred zusammen. Er ist so ganz anders als seine Brüder da draußen. Hat etwas Verschlagenes an sich, etwas, was mich misstrauisch macht. Der beißende Alkoholdunst verpestet die ganze Küche. Fehlt jetzt nur noch der Alfred. Bei ihm hatte ich von Anfang an das Gefühl, er mag mich nicht, ich störe etwas in ihm. Vielleicht ist es die festgefügte Ordnung der Personen, an die

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