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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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werden hier noch viel mehr Leute keine Arbeit mehr haben als die aus der Chemiefabrik, wo die Mutter von der Maria gearbeitet hat.« Er schäumt jetzt und redet sehr laut. Marianne ärgert sich, dass er ihr die feierliche Stimmung verdirbt. Sie dreht den Ton vom Fernseher leise und sagt: »Aber du hast doch immer auf den Staat geschimpft. Ja, freust du dich denn gar nicht?«
    »Doch!«, donnert er nun, »aber darum geht’s doch nicht … da kommen jetzt ganz andere Zeiten auf uns zu.«
    »Ich verstehe dich nicht, Siegfried. Jetzt wart’s doch erst mal ab. Es weiß doch keiner, was kommen wird.«
    Der Siegfried sitzt nun am Tisch und antwortet in einem milderen Ton: »Was in der Höfer-Mühle kommen wird, das ist nicht schwer zu sehen. In einem halben Jahr hat der dichtgemacht. Brief und Siegel drauf.«
    Er schüttelt den Kopf und fügt hinzu: »Wir können nicht holterdipolter in Monaten das schaffen, was die drüben in Jahrzehnten entwickelt haben. Das ist Blödsinn, Marianne.«
    Jetzt ist uns allen mulmig zumute. Johannes gibt mir ein Zeichen, und wir ziehen uns zurück. Als wir die Treppen hochsteigen, meint er, der Vater habe recht, und trotzdem sei es gut so.

Kapitel 19
    DER SEPTEMBER HAT begonnen, und ich gehe wieder zur Schule. Morgens bringt mich Johannes mit dem Motorrad zur Bushaltestelle, nachmittags laufe ich zurück. Ich muss die Klasse wiederholen und bin nun ein Jahr älter als die anderen. Die Mädchen reden von Dingen, die kommen mir weit entfernt vor. Wie sie im Sommer zum ersten Mal einen Jungen geküsst haben und wie einer versucht hat, die Brust eines Mädchens zu berühren. Sie kichern verschämt und finden das unanständig. Die meisten sind noch fünfzehn. Da hätte ich wohl das Gleiche gesagt. Die Jungs scheuen mich. Eigentlich sprechen sie gar nicht mit mir.
    Ich bin fremd unter ihnen. Ich habe Dinge mit dem Henner getan, von denen sie noch nie gehört haben. Da ist ein Abgrund zwischen uns. Sie werden ihre Brücken erst später darüber bauen, doch dann werde ich wohl nicht mehr hier sein.
    Der Unterricht fällt mir leicht. Das meiste kenne ich ja schon. Oft habe ich ein Buch unter dem Hefter liegen und lese ganze Schulstunden hindurch. Es gibt sowieso niemanden, mit dem ich reden könnte. Vielleicht werde ich Buchhändlerin. Das ist zumindest etwas, das mich wirklich interessiert.
    Was aus Johannes wird, ist uns nun allen klar.
    Er fotografiert wie ein Wahnsinniger. Ich bin jetzt nicht mehr sein Hauptmotiv. Er hat sich auf die Gesichter der Dorfbewohner verlegt. Auch den Henner will er unbedingt dabei haben, aber gefragt hat er ihn noch nicht. Ich habe ihn einige Tage nicht mehr gesehen. Nur einmal fuhr er mit dem Auto hinter uns, als Johannes mich zum Bus brachte.
    Jetzt laufe ich den Weg vom Bus bis zum Brendel-Hof. Es sind fast drei Kilometer. Links der Straße liegen Wiesen und dahinter der Fluss. Auf der anderen Seite des Wassers erhebt sich ein bewaldeter Berg. Der Altweibersommer weht luftige, feine Spinnweben übers Land, die sich in meinen Haaren verfangen. Der Mais rechts auf dem Feld ist schon weit gediehen, und ich hole mir einen noch zarten Kolben und esse ihn. Beim Gehen fühle ich mich so frei wie noch niemals vorher.
    Von weit hinten naht ein Auto. Es gibt so wenige Geräusche hier, da hört man gleich, wenn etwas herankommt. Es fährt langsam vorbei und hält ein paar Meter weiter. Er öffnet die Tür von innen und stößt sie auf: »Steig ein!«, sagt er, und ich lasse mich nicht lange bitten. Er wirft mir einen fragenden Seitenblick zu, und ich lächle ihn an. Dann fahren wir weiter zum Brendel-Hof.
    Marianne steht draußen vor dem Zaun und redet mit Frieda, die seit einigen Tagen auf einen Stock gestützt gehen muss. Als wir kommen, dreht der Henner das Fenster runter und sagt: »Tag miteinander! Ich hab die Maria aufgesammelt. Sie kommt noch mit auf die Koppel, die Jella reiten.«
    Ich habe keine Zeit, überrascht zu sein, denn schon hat er den Rückwärtsgang eingelegt und fährt los. »Ist recht!«, höre ich Marianne rufen. »Ich sag’s dem Johannes.« Wir fahren die kurze Strecke bis zum Hof und verschwinden in dem alten Haus, das mir immer seltsamer erscheint, weil sich draußen doch alles beschleunigt, nur der Henner nicht. Den hat die Bewegung nicht erfasst, der ist so, wie er immer war.
    Er ist wieder derb zum Anfang; das käme von dem Hunger nach mir, sagt er und fügt hinzu: »Das ist nicht gut, dass du so selten kommst, Maria.« Wir stehen in der Küche,

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