Irgendwo dazwischen (komplett)
nicht vorzustellen, wie Clemens Emma küsst, doch es will mir nicht gelingen. Je mehr
ich dagegen ankämpfe, desto blumiger werden meine Fantasien. Aus den Küssen
werden Körper, aus den Körpern werden nackte, gierige Körper... Hände, die über
Haut gleiten, feuchte Küsse, lautes Atmen...
Nach einer weniger guten Nacht schäle ich mich am nächsten Morgen
um sieben aus meiner Decke und mache mich fertig. Das Zimmer ist von
sommerlicher Luft erfüllt und die Sonnenstrahlen malen Muster an meine
Zimmerwände. Er küsst genauso gut wie er aussieht. Hätte er doch mich geküsst.
Vor meinem Schrank dieselbe Frage wie jeden Morgen. Ich bin doch
ein stiller Befürworter der Schuluniform. Dann könnte Emma sich auch nicht so
aufbrezeln.
Na, dann eben das übliche Programm. Die blaue Jeans, das
gestreifte Bikinioberteil und ein weißes Unterhemd. Haare zusammengebunden und
die Wimpern getuscht.
Ich bin doch nicht weniger hübsch als Emma, denke ich. Ich habe
lange dunkelbraune Haare und smaragdgrüne Augen. Große Augen wohlgemerkt. Doch
auf mich stehen immer nur die Kerle, die mich überhaupt nicht interessieren.
Zum Beispiel Paul aus der Parallelklasse oder Simon aus der Stufe drüber.
Vor der Turnhalle steht eine Traube von kichernden Mädchen. Ich
parke meinen Roller. Ich weiß jetzt schon, wer da im Zentrum dieser Ansammlung
steht. Emma. Ihr goldenes Haar schmiegt sich an ihren zierlichen Oberkörper,
das rosé-farbene Chiffonhemdchen umspielt ihre Brust und die knackenge
Hüftjeans zeigt einen formvollendeten Po. Sie lacht und wirft ihr Haar in den
Nacken. Als sie mich sieht, gibt sie ein Zeichen, dass man mir Platz machen
soll. Man begrüßt mich, als würde es einen Unterschied machen, dass ich jetzt
da bin. Doch das tut es nicht, denn es geht weiterhin nur um Clemens und die
Tatsache, wie unglaublich gut er küsst. Ich hasse Clemens. Erst habe ich ihn
gehasst, weil er nicht mich küssen wollte, und nun hasse ich ihn, weil er
plötzlich eine derart große Rolle spielt. Emma hatte schon öfter mal was mit
irgendeinem Kerl am Laufen, doch es war noch nie so wichtig. Na ja, fast nie...
aber das mit Stefan war was anderes.
Und gerade, als ich Clemens vor meinem inneren Auge massakriere,
taucht er auf. Und zu allem Überfluss sieht er mal wieder unverschämt gut aus.
Die Mädchentraube teilt sich für ihn, wie für Moses das Meer, und Emma sinkt in
seine muskulösen Arme. Dieser Kuss scheint die Zeit anzuhalten. Alles, was ich
und meine Mitbeobachterinnen noch sehen, sind Emmas volle Lippen, wie sie mit
seinem weichen Mund verschmelzen. Zungen, die sich umspielen und seine Hände,
die ihren Po festhalten, als hätte er Angst, die beiden perfekten Backen
könnten augenblicklich abfallen.
Emma
Ich fühle mich furchtbar. Absolut grauenhaft. Ich selbst bin mein
übelster Gegner. Mein schärfster Kritiker. Und die Liste der Unzulänglichkeiten
ist lang. Wie kann ich so mit ihr umgehen? Doch ich tue es andauernd. Und weil
ich ihr nicht in die Augen schauen kann, schaue ich einfach weg. Ich ignoriere
sie. Ich sollte mit ihr reden, aber ich kann es nicht. Ich sollte mich einer
Lawine kalter Verachtung aussetzen, doch ich tue es nicht. Stattdessen spiele
ich Beziehung. Und darin bin ich einsame Klasse.
Vor der Turnhalle konnten heute alle Zeugen eines perfekten Kusses
des perfekten Paares werden. Ich sehe umwerfend aus, er sieht umwerfend aus. Er
schließt mich in die Arme und küsst mich. Der Kuss sieht besser aus, als er
sich anfühlt. Zumindest hoffe ich das. Das Schrecklichste ist aber, dass ich
nichts desto trotz etwas für ihn empfinde. Vielleicht erreicht er nicht den
Stefan-Status, aber er ist der Erste, für den ich überhaupt etwas fühle, seit
Stefan weg ist. Ich spüre Lilis Blick auf uns. Pure Enttäuschung brennt auf
meiner Haut. Aber was soll ich machen? Für einen Rückschritt ist es nicht nur
schon längst zu spät, sondern dafür will ich ihn zu sehr. Und auch wenn es
nicht gerade für mich spricht, jemanden zu wollen, der mich nur vögeln will, so
ändert es nichts an den Tatsachen. Ich will ihn. Fertig.
Abend zwei in der unendlichen Tragödie Emma und Clemens. Er ist
nackt. Sein Atem poltert gegen meinen Nacken. Ich friere. All das fühlt sich
falsch an. Er auf mir, ich nackt und schutzlos unter ihm, auch wenn ich noch
Unterwäsche trage. Und doch sage ich nichts, weil ich ihn nicht enttäuschen
will. Ich gehöre zu den Frauen, die man problemlos in einer Musterehe der
fünfziger Jahre
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