Irgendwo ganz anders
sagte Friday und schob sich die Haare aus den Augen. »Das KurzZeitJetzt ist das direkte Ergebnis des gedankenlosen Raubbaus, den die Zeitindustrie betreibt. Wenn die ChronoGarde so weitermacht wie bisher, wird es in ein paar Jahren überhaupt kein Jetzt mehr geben und die Welt wird in ein dunkles Zeitalter der ewigen Gleichgültigkeit eintauchen.«
»Meinst du damit, das Fernsehen könnte noch schlechter werden?«, fragte Landen.
»Noch viel schlechter«, erwiderte Friday grimmig. »Bei der Geschwindigkeit, mit der das Jetzt abgebaut wird, wird Wer kriegt die Spenderniere? nächstes Jahr um diese Zeit als Höhepunkt bildungsbürgerlicher Unterhaltung angesehen werden. Aber das leicht verdauliche Fernsehen ist nicht die Ursache – es ist die Wirkung. Ein KurzZeitJetzt bedeutet auch das allmähliche Zusammenbrechen von Planungen für die Zukunft. Die Menschheit wird sich in einer Abwärtsspirale aus lieblosem Eigennutz und sofortiger Befriedigung aller Bedürfnisse langsam selbst strangulieren.«
Trostlose Stille trat ein, als wir die Konsequenzen bedachten. Sie standen uns deutlich vor Augen. Mangelnde Konzentrationsfähigkeit, ein generelles Unbehagen, keine Toleranz, kein Respekt, keine Regeln. KurzFristigkeit. Kein Wunder, dass die Leserzahlen im Außenland im freien Fall waren. Das KurzZeitJetzt hasste Bücher, erforderten sie doch zu viel Denken für zu wenig Befriedigung. Dieser Gedanke machte uns unmissverständlich klar, wie dringlich es war, das Rezept zu finden, wo immer es war: Wenn es keine gefundenen Eier gab, würde es auch keine Zeitreisen geben und keinen weiteren Raubbau am Jetzt. Dann konnten wir alle einer freundlicheren Zukunft entgegensehen, in der es ein Langzeitdenken gab und in der mehr gelesen wurde. Einfach.
»Sollte die Frage nicht Gegenstand einer öffentlichen Debatte sein?«, fragte Landen.
»Was soll das bringen, Dad? Die ChronoGarde muss nicht widerlegen , dass die Reduktion des Jetzt von Menschen verursacht ist, sie braucht lediglich Zweifel zu streuen. Sie werden das KurzZeitJetzt hartnäckig leugnen, die Debatte wird sich endlos in die Länge ziehen, und wir erkennen erst, dass wir ein Problem haben, wenn wir zu gleichgültig geworden sind, um etwas dagegen zu unternehmen. Diese Frage eignet sich nicht für eine Debatte, denn der ChronoGarde wird das Rezept nicht in die Hände fallen. Darauf setze ich meine Karriere. Und glaub mir, die Karriere, die ich hätte machen können, ist einfach glänzend.«
Nach Fridays Rede schwiegen erst einmal alle beeindruckt. Ich war sehr stolz auf ihn und fand es ermutigend, dass eine solche Beredsamkeit und moralische Entschiedenheit von einem schmuddeligen und unordentlichen Individuum ausging, das ein T-Shirt mit Aufschrift Wayne Skunk is the Bollocks trug.
»Wenn nur Mycroft noch am Leben wäre«, seufzte Polly und brach die Stille. »Dann könnten wir ihn nach dem Rezept fragen.«
In diesem Augenblick kam mir die Erleuchtung. »Tantchen«, sagte ich, »komm mit. Friday, du auch.«
Inzwischen dämmerte es, und die letzten Strahlen der Abendsonne fielen durch die staubigen Fenster von Mycrofts Werkstatt. In diesem Licht wirkte sie noch schäbiger.
»So viele Erinnerungen!«, hauchte Polly und humpelte an Fridays Arm über den Betonboden. »Was für ein Leben. Ich war nicht mehr in der Werkstatt, seit er ... ihr wisst schon.«
»Erschrick bitte nicht«, sagte ich, »aber ich habe Mycroft in den vergangenen beiden Tagen zweimal hier gesehen. Er ist zurückgekommen, um uns etwas zu sagen, aber bis jetzt hatte ich keine Ahnung, worum es dabei ging. Polly?«
Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und sie starrte in die schummrige Leere der Werkstatt. Ich folgte ihrem Blick, und als sich meine Augen an das Licht gewöhnten, konnte ich ihn auch sehen. Mycrofts Durchsichtigkeit war noch gesteigert, und alle Farbe schien aus seinem Körper gewichen zu sein. Eigentlich war er so gut wie nicht anwesend.
»Hallo, Poll«, sagte er lächelnd, die Stimme nur ein leises Grollen, »du siehst absolut fantastisch aus!«
»Ach, Crofty!«, murmelte sie. »Du bist so ein Lügner. Ich bin ein klappriges Wrack und gehöre zum alten Eisen. Aber ich habe dich schrecklich vermisst!«
»Mycroft«, flüsterte ich höflich, »ich unterbreche dein Gespräch mit deiner Frau nur sehr ungern, aber wir haben wenig Zeit. Ich weiß, warum du zurückgekommen bist.«
»Willst du damit sagen, dass es nicht wegen Daphne Farquitt oder der Stühle war?«
»Nein.
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