Irische Küsse
kühnen Sprung wäre es möglich, die Befestigungsmauer zu erreichen. Aber ein Fehltritt, ein zu kurzer Sprung würde ihren sicheren Tod bedeuten. Das Risiko war zu groß.
Die Zeit verstrich, und der Wächter verlor allmählich das Interesse an ihr. Sie richtete kein Wort an ihn, kauerte still in einer Ecke und gab sich den Anschein, jeglichen Widerstand aufgegeben zu haben.
Der zerbrochene Dolchgriff lag zu ihren Füßen und war als Waffe unbrauchbar geworden. Ohne eigentlich zu wissen warum, steckte sie ihn in ihren Gürtel. Wahrscheinlich tat sie dies, weil er ihr vertraut war, weil er ihr gehörte, und vielleicht könnte sie eines Tages eine neue Klinge an ihm anbringen lassen.
Sie schaute sich wieder konzentriert in der Kammer um. Es gab nur einen Stuhl, ein Bett und das Kleiderbündel, das sie mitnehmen wollte. Den Stuhl hätte sie gern als Waffe benutzt, aber dummerweise saß der Wächter darauf.
Aber es gab noch eine Möglichkeit. Sie überlegte ihre Chancen, wog sorgfältig alle Unsicherheiten ab.
Plötzlich hörte sie ein entferntes Geräusch, ein Knarren. Sie spannte jeden Muskel an. Es war Zeit, etwas zu unternehmen, statt tatenlos auf Johns Rückkehr zu warten.
„Mir ist kalt“, murmelte sie. „Darf ich ein wärmeres Gewand anziehen?“
Der Soldat überlegte, fand aber keinen Grund, ihr die Bitte abzuschlagen. Achselzuckend warf er ihr das Reisebündel zu. Honora schnürte es auf und kramte darin herum, bis sie das Leinenhemd fand.
Wachsam verfolgte der Soldat ihr Tun.
„Dreht Euch bitte um“, bat sie scheu. „Ich möchte nicht, dass Ihr mir beim Umziehen zuseht.“
Zu ihrem Erstaunen gehorchte er. Während sie raschelnde Geräusche machte, um ihn denken zu lassen, sie kleide sich um, schlich sie sich lautlos an ihn heran. Dabei drehte sie das Hemd wie einen Strick und wickelte sich die Enden um die Handgelenke. Blitzschnell sprang sie ihn von hinten an, warf ihm die Schlinge um den Hals und drückte mit aller Kraft zu.
Nach kurzer Gegenwehr sank der Soldat besinnungslos zu Boden.
Honora eilte zum Fenster und stieß die Läden auf. Zu ihrem Schreck hing ein dickes Seil von oben herunter. Im nächsten Moment sah sie, wie Sir Ademar sich daran herunterließ.
„Was tut Ihr da?“, fragte sie verdattert.
Der Ritter zwängte sich durch die schmale Fensteröffnung. „Eure Schwester sagte mir, w…was geschehen ist. Sie denkt, Ihr braucht Hilfe.“
Katherine? Honora biss sich auf die Unterlippe, völlig verblüfft, dass ihre Schwester ihr beistehen wollte.
„Warum habt Ihr meinen Vater nicht verständigt?“
Sir Ademar meinte achselzuckend: „Nun ja, i…ich fand es spannender, Euch zu b…befreien, ohne dass j…jemand etwas davon weiß.“
Ein hoffnungsvolles Lächeln huschte über ihre Lippen. „Spannender?“
Er nickte. „Weniger u…umständlich. Und auf diese Weise k…kommt niemand zu Schaden.“ Vor Verlegenheit errötete er über sein Stottern, das Honora jedoch nicht im Geringsten störte.
Er hatte natürlich recht. Wenn ihr die Flucht gelang, bevor John davon erfuhr, konnte sie einigen Vorsprung gewinnen. Doch dann schoss ihr ein beängstigender Gedanke durch den Sinn. Erwartete Ademar etwa, dass sie aus dieser Höhe sprang?
„Wie soll ich denn da runterkommen?“
Der Edelmann bemühte sich, langsam zu sprechen, um weniger zu stottern. „Ich helfe Euch zu…zum W…Wehrgang hinüber. Wir müssen uns beeilen.“
Honora wurde übel bei dem Gedanken, an dem Seil hängend den Abgrund unter ihr zu überwinden. Wenn der Schwung nicht ausreichte oder sie einen Fehltritt machte, würde sie in die Tiefe stürzen.
„Wäre es nicht besser, die Wachen vor der Tür außer Gefecht zu setzen?“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde sie von außen geöffnet.
Mit einem riesigen Satz warf Sir Ademar sich dagegen und befahl: „Springt!“
Bebend vor Angst griff Honora nach dem Seil. Du schaffst es! Wenn sie nur wirklich fest daran glaubte, würde es ihr gelingen.
„Stoßt Euch kräftig ab und schwingt Euch zum Wehrgang hinüber“, drängte Sir Ademar. „Dort findet Ihr alles, was Ihr zur Flucht braucht.“ Er stemmte sein ganzes Gewicht gegen die Tür, an der heftig gerüttelt wurde. „Ewan ist bereits meilenweit entfernt.“
Honora kroch durchs Fenster, balancierte auf dem Mauervorsprung und packte das Seil mit beiden Händen. Mit einem letzten Blick über die Schulter bedankte sie sich. „Ihr seid ein wahrer Held, Sir Ademar.“
Mit wild klopfendem Herzen
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