Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
erklärend, worauf sich diese Bemerkung nun bezog. »Dann sollten wir von hier verschwinden. Ich bin nämlich ganz und gar nicht sicher, dass das schon alles war.«
14
Über der Stadt ging eine Sonne auf, die mir genauso schmutzig, aufgebläht und falsch vorkam wie das ferne graue Häusermeer, zu dem die Dämmerung darunter gerann. Rot und missgestaltet und sowohl in Form als auch in Farbe eher an eine halb zermatschte Orange erinnernd kam es mir beinahe so vor, als verharrte sie seit einer kleinen Ewigkeit dort auf dem Horizont und könnte sich nicht entscheiden, ob sie ihren Weg fortsetzen oder angesichts des deprimierenden Anblicks nicht doch lieber kehrtmachen und ihr Antlitz vor Scham verhüllen sollte.
Unter normalen Umständen hätte ich über einen derart abwegigen Gedanken bestenfalls gelächelt, mir wahrscheinlich selbst eine Rüge erteilt, aber jetzt ließ er einen üblen Nachgeschmack zurück, der vielleicht eine Warnung beinhaltete.
Ich stand nun schon seit mindestens einer Stunde am Fenster des dritten Stocks des altehrwürdigen und erstaunlich weitläufigen Gebäudekomplexes, in den man uns gebracht hatte, nachdem wir dem Überfall in dem Schlachthof entkommen waren. Von unruhigen Gedanken gequält hatte ich auf den Sonnenaufgang gewartet, nur um dann vor dem, was ich sah, zurückzuschrecken. Ich verstand nicht genau, warum. Obwohl meine Heimat, hatte ich Belfast niemals wirklich gemocht, aber sein Anblick war auch stets weit davon entfernt gewesen, mich zu ängstigen. Das hatte sich geändert. Vielleicht weil ich nun wusste, dass unter dieser hässlichen Oberfläche etwas noch viel Hässlicheres und Furchteinflößenderes lauerte.
Ich blickte auf meine Hand, die nun nicht mehr bandagiert war. Das Dämonenauge, das mich so sehr beunruhigt hatte, war verschwunden. Es hatte sich nicht etwa zurückgebildet und eine Narbe hinterlassen, sondern war einfach nicht mehr da. Ein Blick in den Spiegel hatte mich davon überzeugt, dass sich auch meine sonstigen Verletzungen zurückgezogen hatten. Und wenn ich mich bewegte, fühlte ich mich nun nicht mehr wie ein Achtzigjähriger, dem man den Krückstock geklaut hatte, sondern fit genug, um gleich mehrfach hintereinander die Treppe zu Jacobs’ Büro hochsprinten zu können, sollte mir danach sein.
Was es nicht war. Ich hätte froh sein können, dass ich mich so schnell erholt hatte. Aber das war ich nicht. Der ganze Wahnsinn hatte am Anfang der Woche an dem stinkenden Kanal begonnen, und von Tag zu Tag hatte ich das Gefühl gehabt, mehr an Energie zu verlieren. Dass sich das jetzt ins Gegenteil verkehrte und ich nach all der Prügel, die ich hatte einstecken müssen, an diesem Sonntagmorgen fast unbeschadet dastand, sah man einmal von den unangenehm brennenden Einstichstellen an meinem Hals ab, machte mir Angst.
Ich war eindeutig erleichtert, als ich ein Geräusch an der Tür vernahm, das mir einen Grund lieferte, mich vom Fenster abzuwenden.
»Es geht ihm ein bisschen besser«, sagte Allison, während sie beiläufig die Tür hinter sich schloss und mir ein ebenso beiläufiges grüßendes Nicken zukommen ließ; was mich ein bisschen verletzte. »Er schläft.«
Sie ging zum Tisch, ließ sich schwer auf einen der einfachen Stühle fallen und griff mit beiden Händen nach einer Wasserkaraffe und einem Glas, schenkte sich aber nicht ein. »Der Doktor sagt, wir hätten nicht viel später kommen dürfen.«
Ich wusste sehr wohl, wovon sie sprach, fragte aber trotzdem: »Wer?«
»Stanley«, antwortete Allison. »Er hat eine Menge Blut verloren, aber das ist nicht einmal das Schlimmste.«
Wie kam sie eigentlich auf die Idee, dass mich ausgerechnet Jacobs’ Wohlergehen interessierte?, dachte ich, nickte aber trotzdem und gab mir alle Mühe, Interesse zu heucheln.
»Er hat mindestens dreißig Pfund abgenommen«, fuhr Allison fort, immer noch mit Glas und Karaffe spielend, ohne sich einzuschenken. Ich überlegte, ihr die kleine Mühe abzunehmen, entschied mich aber dann dagegen. »Der Doktor sagt, er sei in einem Zustand wie ein Mann, der monatelang gedarbt hat. Aber ich habe ihn vor ein paar Tagen noch gesehen, und da hat er sich bester Gesundheit erfreut!« Sie stellte die Karaffe ab, behielt das Glas aber in der Hand. »Aber wie ist so etwas möglich?«
»Wie geht es Ihnen , Allison?«, fragte ich.
Allison sah mich zwar leicht vorwurfsvoll an, hob aber die Linke an den Hals und berührte den frischen weißen Verband, den sie genau wie ich selbst trug.
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