Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
nicht.
Als ich neben sie trat, konnte ich das verstehen. Auf dem Tisch vor uns lag einer der Toten aus dem Keller. Der größte Teil seines Kopfes fehlte, und was davon übrig war, sah aus, als hätte man ihm mit grobem Schrot aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen. Es war der Mann aus der Straßenbahn.
»Was für ein furchtbarer Anblick«, begann Nikola. »Und genau darüber muss ich auch dringend mit Ihnen reden, Allison.«
Allison drehte sich halb zu uns um und bedachte mich mit einem zwar flüchtigen, aber sehr warmen Lächeln, wandte sich jedoch sogleich sehr ernst an Nikola. »Ich weiß. Und ich mit Ihnen, Nikola. Über diesen armen Mann und auch über gewisse … andere Dinge.«
»Allison, was tun Sie hier?«, fragte ich. »Was hat das zu bedeuten, und …?«
Allison ignorierte mich. »Und nur mit Ihnen, Nikola.«
»Was soll das heißen?«, fragte Nikola. »Allison!«
Ganz so, als hätte sie meine Anwesenheit vergessen, wandte sich Allison an den rothaarigen Pfleger. »Ich verlasse mich darauf, dass Sie verstanden haben, Mister Mulligan.«
»Das habe ich, Madam«, antwortete Mulligan.
»Und dass Sie tun werden, was Sie mir versprochen haben«, fuhr Allison ungerührt fort. »Ich habe Ihr Ehrenwort?«
Mulligan nickte, doch bevor er laut antwortete, sah er noch einmal auf die nahezu kopflose Leiche hinab. »Ja, Madam«, sagte er fast schon feierlich. »Sie haben mein bestes irisches Ehrenwort.«
»Und ich hätte gerne die Antwort einer Irin auf meine Fragen«, beharrte ich. »Was bedeutet das alles hier? Was hat Mulligan Ihnen versprochen?«
»Das geht Sie nun wirklich nichts an«, erwiderte Allison und schüttelte zugleich den Kopf. »Wenn alles vorbei ist, sage ich es Ihnen. Aber jetzt muss ich erst einmal mit Nikola reden. Allein.«
»Wie bitte?«, ächzte ich.
»Bitte«, sagte Allison. »Es tut mir leid, ich weiß, wie sich das in Ihren Ohren anhören muss, Quinn, aber es ist wirklich wichtig, und uns bleibt nur sehr wenig Zeit.«
»Aber das ist doch …«, begehrte ich auf und wurde erneut unterbrochen, jetzt von Nikola. »Bitte bringen Sie MisterDevlin in Doktor Watsons Büro. Miss Carter und ich kommen nach, sobald wir hier fertig sind.«
»He!«, protestierte ich.
»Kommen Sie, Mister Devlin.« Mulligan legte mir eine Hand auf die Schulter, die zwar nicht wirklich wie ein Schmiedehammer aussah, aber mindestens so viel wog. »Gehen wir.«
20
Mulligan hatte nicht wirklich Gewalt angewandt, um mich in Watsons Büro hinaufzuexpedieren, aber er hatte es auf eine Art und Weise nicht getan, die keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er es tun würde, wenn ich ihm auch nur den geringsten Vorwand dafür liefern würde. Da ich mich mittlerweile hinlänglich an Mulligan und die eine oder andere Episode erinnerte, die ich mit ihm erlebt hatte, hütete ich mich, ihm diesen Gefallen zu tun. Ich fühlte mich auch so schon elend genug.
Die gute Stunde, die ich anschließend darauf warten musste, dass überhaupt jemand zu mir kam, trug auch nicht unbedingt dazu bei, meine Laune zu bessern. Ich sorgte mich um Allison, und dass sie so offensichtlich Geheimnisse vor mir hatte, verletzte mich mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte.
Das Unwetter tobte mit ungebrochener Gewalt weiter, sodass ich nicht sicher war, ob eine Unterhaltung bei dieser Geräuschkulisse überhaupt möglich gewesen wäre. Ein- oder zweimal meinte ich zu hören, wie die Fensterscheiben unter der Urgewalt der Donnerschläge klirrten, und meine Fantasie ließ es sich natürlich nicht nehmen, die Sekundenbruchteile zwischen dem Gleißen der Blitze und der völligen Rückkehr meines Sehvermögens mit den grässlichsten Schreckensvisionen zu füllen.
Wenigstens hoffte ich, dass es nur Visionen waren.
Um mir die Zeit zu vertreiben, stand ich nach einer Weile auf und begann Watsons sparsam eingerichtetes Büro einer gründlichen Inspektion zu unterziehen, schon um mir ein etwas besseres Bild von diesem geheimnisvollen Mann zu machen, aus dem ich immer noch nicht richtig schlau wurde – und zugegebenermaßen auch ein wenig aus purer Neugier. Sehr viel gab es indes nicht zu entdecken. Die Einrichtung war – soweit überhaupt möglich – noch spartanischer als meine eigene und ganz eindeutig älter sowie auf das Allernotwendigste beschränkt.
Auf dem zerschrammten Schreibtisch stand ein modernes Skelett-Telefon, dessen Innereien nicht wie bei Wandapparaten üblich von einem Holzgehäuse verdeckt wurden, sondern auf fast
Weitere Kostenlose Bücher