Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
übertrieben. »Es stinkt«, stellte er fest. Wogegen ich schwerlich etwas einwenden konnte.
Ich ging weiter, und nun war es Mulligan, der sich sputen musste, um vor mir die ausgetretenen Stufen herunterzueilen. »Wir müssen nach oben, so schnell wie möglich. Hier stimmt etwas nicht.«
»Es ist nicht mehr weit, Inspektor.« Mulligan hatte die letzte Stufe erreicht und wedelte mit seiner Lampe, was eine neuerliche Woge unwillkommener lautloser Bewegung in den Schatten vor uns zur Folge hatte. »Nur noch ein paar Schritte, und …«
Mulligan verstummte mitten im Satz, und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln.
Genau dort, wo er stehen geblieben war, machte der Gang einen scharfen Knick nach links, und nur wenige Schritte dahinter gähnte ein kreisrundes Loch im Boden. Bisher war es mit einem schweren gusseisernen Deckel verschlossen gewesen, wie ich ihn sonst nur von den Straßen hoch oben über unseren Köpfen kannte, aber etwas hatte dieses zentnerschwere Metallstück nicht nur einfach gepackt und mit Wucht meterweit an die Wand geschleudert, sodass der massive Stein bis unter die Decke geborsten war, sondern den Kanaldeckel auch nahezu im Fünfundvierzig-Grad-Winkel geknickt. Das unheimlich giftgrüne Licht, das ich schon von oben gesehen hatte, drang aus diesem Schacht, und inzwischen war der Gestank so dicht und grässlich geworden, dass wir nicht nur angeekelt das Gesicht verzogen, sondern man ihn tatsächlich sehen konnte, wie das halb transparente Flirren kochender Luft, die aus einem Hochofen oder über der Wüste aufsteigt.
»Was um alles in der Welt ist denn … ist denn hier passiert?«, würgte Mulligan hervor. »Das ist doch … ist doch …«
Das Wort, nach dem er suchte, war unmöglich , aber das behielt ich für mich. Schon weil ich der Meinung war, dass es in letzter Zeit eindeutig inflationär benutzt worden war.
Mulligan stellte seine Lampe neben dem Schacht auf den Boden, beugte sich zu meiner Erleichterung aber nicht darüber, sondern ging zu dem weggeflogenen Deckel, um ihn anzuheben. Erstaunlicherweise gelang es ihm nicht, was mich ziemlich überraschte. Schließlich wusste ich, wie stark er war.
»Was zum Teufel ist hier passiert?«, fragte er noch einmal, und in jetzt eher zornigem Ton. »Wer macht denn so etwas?«
»Jemand, der möglichst schnell hier wegwollte«, vermutete ich. »Und ohne gesehen zu werden.«
»Da lang?« Mulligan deutete auf den Schacht und verzog angewidert die Lippen. »Das glauben Sie doch selbst nicht! So verrückt sind doch nicht einmal die Verrückten hier!«
Dann tat er etwas, das meiner Meinung nach mindestens genauso verrückt war: Er ging zum Schacht, ließ sich daneben auf die Knie sinken und beugte sich mit angehaltenem Atem darüber. Die Lampe brauchte er nicht, denn aus dem Schacht drang ein blassgrüner Glanz, als wäre an seinem Grund ein starker Scheinwerfer aufgestellt, der direkt nach oben ausgerichtet war.
Für einen Moment war es, als hielte die Zeit den Atem an. Direkt von unten und von dem kränklichen grünen Licht beschienen, ähnelte Mulligans Gesicht eher einer Dämonenfratze auf einem düsteren mittelalterlichen Gemälde, das selbst einem Hieronymus Bosch Albträume beschert hätte, als einem menschlichen Antlitz, und für die Dauer eines einzelnen, schier endlosen Herzschlages wusste ich einfach, dass im nächsten Moment ein Bündel schleimtriefender Tentakel aus schmutzigem Metall und faulendem Fleisch zu ihm heraufschießen und ihn in die Tiefe reißen würde.
Nichts geschah. Das einzig Chaotische hier war meine eigene Fantasie, die nun offenbar endgültig außer Rand und Band geraten war und ihr Möglichstes tat, um mich endgültig über eine Klippe stürzen zu lassen, jenseits derer es keine Wiederkehr mehr gab.
Irgendetwas musste jedoch dort unten sein, denn Mulligan beugte sich plötzlich noch weiter vor und war so überrascht, dass er mit einem Keuchen die Luft einsog – was er seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen zwar augenblicklich bedauerte, ihn aber nicht davon abhielt, sich noch weiter vorzubeugen und die Augen aufzureißen. Sofort – und das konnte ich sehen – trieben ihm die ätzenden Dämpfe Tränen in die Augen, doch was er sah, schien ihn so zu schockieren, dass er nicht einmal blinzelte.
»Inspektor! Sehen Sie!«
Ich wünschte mir, er würde endlich mit dem Inspektor- Gefasel aufhören, aber in seiner Stimme war auch eine solche Dringlichkeit, dass ich mich widerwillig in Bewegung setzte. Mit
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