Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

offensichtlich noch weniger Anstrengung riss sie ihm nicht nur den albernen Vogelkäfighelm vom Kopf, sondern auch die Ketten vom Leib, als wären es nicht mehr als eisenfarbene Papierschlangen.
    Der zweite Neumann stürmte mit weit ausgebreiteten Armen Adler und seinen beiden Männern entgegen, und ich war nicht im Geringsten überrascht, dass er es mühelos mit allen drei gemeinsam aufnahm. Adler war (wie ich ohne Scham eingestehen muss, nicht zu meinem Bedauern) der Erste, der zu Boden ging und eine Fontäne hellroten Blutes und mindestens einen Zahn ausspuckte, und das helle Knacken, mit dem ein Handkantenschlag des Angreifers O’Briens Arm hinabschmetterte, sodass er seine Waffe fallen ließ und sich nur einen halben Atemzug später zu ihr auf den Boden gesellte, konnte ich über dem allgemeinen Geschrei und elektrischen Zischen deutlich hören.
    Nikola schrie auf, als ihn die Frau mit sich hinaus auf den Gang riss, und ich begriff voller Panik, dass wir drauf und dran waren, den Professor zu verlieren. Adler spuckte neben einem weiteren Zahn auch ein unverständliches Kommando aus, und der dritte Constabler riss seine Waffe gerade weit genug hoch, dass der Angreifer seine Arme nach oben und ihm den Pistolenlauf hart genug über das Gesicht schlagen konnte, um ihn auf der Stelle ins Reich der Träume zu schicken, und das – endlich – war der Moment, in dem ich aus meiner selbst auferlegten Starre aus Unglauben und ganz ordinärer Angst erwachte und losstürmte, um mir ebenfalls meinen Anteil Prügel abzuholen.



26

    Ich hätte nicht sagen können, ob das sonderbar grau gefärbte Licht, das durch die schmalen Fenster von Watsons Büro drang, zur Morgen- oder Abenddämmerung gehörte oder es vielleicht nur an den schmutzigen Scheiben lag. Wenn ich ganz ehrlich war, konnte ich zumindest in diesem Moment nicht einmal sagen, was Morgen- oder Abenddämmerung überhaupt war .
    Mein Schädel schmerzte so unerträglich, dass mir der Gedanke, in den nächsten Minuten an einer inneren Verletzung oder einer Gehirnblutung zu sterben nicht so unattraktiv erschien wie die meisten anderen denkbaren Alternativen, und ich hatte immer noch Mühe, klar zu sehen. Ich war nicht einmal besonders lange bewusstlos gewesen, sondern schon wieder zu mir gekommen, als Mulligan mich wie einen nassen Sack über die Schulter geworfen hatte und die steile Treppe nach oben trug, doch ich war nicht sicher, ob man die Zeit seither wirklich als Wachsein bezeichnen konnte. Watson hatte meinen ramponierten Schädel so gut oder schlecht versorgt, wie es unter den gegebenen Umständen eben möglich gewesen war. Doch selbst das bisschen graue Licht, das durch das schmutzige Fenster hereinsickerte, stach wie Messerklingen in meine Augen, wenn ich den Fehler beging, direkt hineinzusehen.
    Unglückseligerweise hatte ich kaum etwas anderes zu tun. Mulligan hatte mich in Watsons Büro geschleppt und mir beschieden, mich zu gedulden, bis der Doktor die anderen Verletzten versorgt hatte und zu mir kommen konnte. Das war eine halbe Stunde her, mindestens, wenn nicht eine ganze, und alles, was ich seither zu tun gehabt hatte, war, darauf zu warten, dass die Zeit verging und meine Kopfschmerzen nachließen. Eines von beidem hatte sogar funktioniert.
    Obwohl mir mehr Knochen im Leib wehtaten, als ich überhaupt hatte, quälte ich mich von dem unbequemen Besucherstuhl in die Höhe und trat an das schmutzige Fenster heran, nur um festzustellen, dass es gar nicht schmutzig war. Das graue Licht war einfach grau, weil es sich seinen Weg durch eine dichte Wolkendecke bahnen musste, die wie ein Dach aus geschmolzenem schmutzigem Teer über dem Institut und der ganzen Stadt hing; so tief, dass man meinen konnte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um sie zu berühren. Weiter im Osten und über dem Meer begannen die Wolken dunkler und schließlich schwarz zu werden, und ich meinte sogar ein mattes Wetterleuchten wahrzunehmen. Doch als ich noch einmal hinsah, war da nichts. Vermutlich nur Wunschdenken.
    Wie auf ein Stichwort hin begann es zu regnen, ein feiner, staubiger Schleier, der mit einem Geräusch wie Seide über die Fensterscheibe strich und den asymmetrischen Hof unter mir zu versilbern begann. Meine Fantasie tat sich mit meinen Kopfschmerzen zusammen und gaukelte mir die Schatten gewaltiger Tentakel vor, die hinter den Wolkenmauern wogten und mit einer Million gieriger zahnbewehrter Mäuler nach allem schnappten, was sich bewegte.
    Das Wissen, nur einem