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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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entsprach. Ich glaubte nämlich nicht, dass er noch sehr lange durchhalten würde.
    »Dann geh voraus«, bat ich.
    Chip atmete noch einmal hörbar durch die Nase ein, dann straffte er tapfer die Schultern und ging voraus.
    Wir waren erst seit wenigen Augenblicken unter freiem Himmel, und doch war ich nicht nur bereits bis auf die Haut durchnässt, sondern begann schon vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. Noch vor wenigen Augenblicken hatte ich das Gewitter trotz allem begrüßt, und mein Verstand tat das auch immer noch. Aber der Teil von mir, der fror und immer stärker mit den Zähnen klapperte, kam allmählich zu der Erkenntnis, dass es ein großer Unterschied war, sich so etwas in der behaglichen Sicherheit einer von dicken Mauern geschützten Zelle zu wünschen, oder in denkbar unpassender Kleidung durch ein ebensolches Gewitter zu stolpern.
    Gottlob hatte Chip die Wahrheit gesagt, und es war nicht mehr weit. Obwohl es immer dunkler wurde und Blitz und Donner zwar noch nicht mit Urgewalt über uns herfielen, aber doch zunehmend heftiger wurden, erkannte ich meine Umgebung nun wieder. Vermutlich in direkter Luftlinie zum Hafen hatten wir tatsächlich schon einen Großteil der Strecke zurückgelegt, von der ich dachte, sie läge noch vor uns. Wir überquerten die Straße, auf der ich das erste Mal zusammen mit Allison hierhergekommen war, und ich konnte mich eines eisigen Fröstelns nicht erwehren, als wir an einem bestimmten Gittertor vorbeigingen und zu meiner Erleichterung dann den Weg zur Werft einschlugen. Aber warum eigentlich? Immerhin wollten wir uns einer ungleich größeren Gefahr stellen, der wir außer einer vagen Theorie und einer Menge Hoffnung herzlich wenig entgegenzusetzen hatten.
    Aus meinem unguten Gefühl wurde Gewissheit, als wir uns dem Werftgelände näherten. Wie um uns noch ein wenig mehr zu demoralisieren, erscholl ein einzelner, besonders heftiger Donnerschlag als Ouvertüre zum Aufbrüllen des eigentlichen Gewitters, das nun direkt über unseren Köpfen und mit der von mir vorhin (nicht wirklich) vermissten Urgewalt losbrach. Auf den letzten Metern peitschte uns der Wind mit solcher Macht in die Gesichter, dass wir nur noch weit nach vorne gebeugt gehen und kaum noch etwas sehen konnten.
    Immerhin herrschte am Tor nicht mehr das schreckliche Gedränge wie bei meinem ersten Besuch, und das Gewitter und die eisigen Temperaturen hatten selbst die mit Knüppeln bewaffneten Schläger, die sich als Sicherheitspersonal ausgaben, in den Schutz einer beheizten Zuflucht gejagt. Dennoch war mir nicht wohl bei dem Gedanken, einfach so durch das Tor zu spazieren, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Immerhin gab es da noch den Pförtner in seiner gepanzerten Loge, die mir einmal mehr wie der Geschützturm eines modernen Schlachtschiffes vorkam.
    »Und du glaubst, sie lassen uns einfach so hereinspazieren?« Ich musste fast schreien, um mich mit Chip zu verständigen. In diesem Moment meinte ich eine Bewegung hinter den regennassen Scheiben über uns wahrzunehmen und die körperlose Berührung bohrender Blicke zu spüren.
    »Er gehört zu uns«, antwortete Chip. »Er glaubt, dass ich nach Hause komme.«
    Oder winkt uns freundlich zu, weil wir so nett waren, freiwillig in eine Falle zu tappen, von der wir noch dazu genau wussten, dass sie da war, fügte ich in Gedanken hinzu. Watson dachte dasselbe. Ich konnte es beinahe hören.
    Wie um seine Worte unter Beweis zu stellen, hob Chip den Arm und grüßte den unsichtbaren Beobachter über uns. Es war unmöglich, zu erkennen, ob er eine Antwort bekam, aber immerhin schoss niemand auf uns, als wir das Werftgelände betraten, und es tauchten auch weder eiserne Spinnen noch Säure verspritzende Tentakelmonster auf, um uns zu attackieren. Ganz im Gegenteil wirkte das weitläufige Werftgelände schon fast gespenstisch verlassen, wenn auch zugleich alles andere als ruhig. Der Gewittersturm hatte die Menschen nach drinnen getrieben, wo sie zumindest vor der Kälte und den niederstürzenden Wassermassen in Sicherheit waren, erfüllte das Gelände aber zugleich mit einem Chaos reiner Bewegung und hektisch flackernden Lichtes, das mir fast vollständig die Orientierung raubte.
    Bei meinem ersten Besuch hier war mir der gigantische Rumpf der Titanic Ehrfurcht gebietend und Furcht einflößend zugleich erschienen, und ich hatte mich so klein und schrecklich unbedeutend gefühlt wie jeder normal denkende Mensch beim Anblick dieses stählernen

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