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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Mulligans Hand zu mir herab, ergriff mich am Kragen und zog mich die letzten zwei oder auch drei Fuß so mühelos in die Höhe, dass ich mir vornahm, mir in Zukunft sehr genau zu überlegen, wie ich mit ihm sprach.
    Mit beinahe noch weniger Mühe schob er mich zur Seite, damit Watson hinter mir als Letzter aus dem Schacht steigen konnte, und stellte mich erst dann auf die Beine. Neugierig sah ich mich in meiner neuen Umgebung um.
    Wären wir nicht gerade aus der Kanalisation gekrochen, dann hätte der Anblick nicht anders als deprimierend auf mich gewirkt. Wir waren in einer schmalen grauen Straße herausgekommen, die nicht unbedingt so aussah, als hätte nur der eisige Regen jegliches Leben vertrieben. Wenn es hier überhaupt Bewohner gab, dann hatten sie sich hinter geschlossenen Türen und vorgelegten Läden verkrochen, hinter denen kein einziges Licht brannte. Der eisige Winterregen und die Erinnerung an den Kanalisationsgestank ließen die Luft besser schmecken, als sie war, doch unter der eingebildeten Frische spürte ich auch den Geruch von brennender Kohle und altem Pferdemist, von abgestandenem Schweiß, kaltem Tabakrauch und Moder. Wir waren nicht unbedingt in einer der feineren Gegenden der Stadt gelandet. Allerdings hatte ich auch nicht damit gerechnet, dass das Institut in einer solchen lag.
    »Du dummer Junge! Was hast du dir nur dabei gedacht?«, erklang Watsons Stimme hinter mir, sodass ich mich besorgt zu ihm umdrehte. Watson war mir nicht gefolgt, sondern hatte sich neben Chip in die Hocke sinken lassen, der seinerseits auf ein Knie gesunken war und den rechten Arm an den Leib presste. Wenn ich mich richtig erinnerte, war das derselbe, mit dem er den Kanaldeckel weggestoßen hatte. Ich konnte Chips Gesicht nicht sehen, aber seine Stimme bebte vor Schmerz, als er antwortete.
    »Das ist nicht so schlimm, Doktor. Es tut nur ein bisschen weh.«
    »Nicht so schlimm?« Watson griff nach Chips versehrtem Arm und tat irgendetwas damit, das dem Jungen einen kurzen Schmerzenslaut abnötigte. »Red keinen Unsinn! Dein Handgelenk ist gebrochen, und diese beiden Finger wahrscheinlich auch. Wie kann man nur so dumm sein?«
    »Es ist wirklich nicht schlimm, Doktor.« Wohl um diese Behauptung unter Beweis zu stellen, machte Chip seinen Arm los und stemmte sich in die Höhe – wenn auch mit dem Ergebnis, dass er sogleich vor Schwäche taumelte und prompt wieder gestürzt wäre, hätte Mulligan ihn nicht aufgefangen.
    »Was ist passiert?«, fragte ich unbeholfen und mit einiger Verspätung.
    »Haben Sie das nicht gesehen«, fragte Watson zornig.
    »Doch«, musste ich einräumen. »Aber ich dachte, ich hätte es mir eingebildet. Ich wusste gar nicht, dass so etwas möglich ist.«
    »Sie würden sich wundern, was einem menschlichen Körper alles möglich ist, Mister Devlin«, sagte Watson ärgerlich. »Die meisten vergessen nur, dass er dabei auch manchmal kaputt geht.«
    »Aber es ist wirklich nicht …«, begann Chip und schrie dann noch einmal und lauter auf, als Watson erneut nach seinem Arm griff.
    »Und jetzt halt still!«, sagte er barsch. »Viel ist es nicht, was ich im Augenblick für dich tun kann, aber mit einem festen Verband tut es vielleicht nicht ganz so weh.«
    »Das ist wirklich nicht nötig«, meinte der Junge. »Sobald ich zu Hause bin, werden sie mir die Schmerzen nehmen.«
    Watson verdrehte nicht nur die Augen, um zu demonstrieren, was er von dieser Behauptung hielt, sondern versorgte Chips Handgelenk auch auf eine Weise, dass sich der Junge vermutlich wünschte, es wäre schon so weit. Ganz instinktiv wollte ich mich über seine Grobheit empören, doch stattdessen fragte ich mich, wo eigentlich geschrieben stand, dass Ärzte zusammen mit dem hippokratischen Eid auch gleichzeitig das Versprechen ablegten, zu sanftmütigen Heiligen zu werden.
    Watson legte dem Jungen einen festen Verband an und fesselte seinen verletzten Arm dann zusätzlich so fest an seinen Leib, dass er wahrscheinlich kaum noch Luft bekam, wobei er den dafür benötigten Stoff kurzerhand aus Chips Hemd riss. Er gehörte wirklich nicht zu den Ärzten, zu denen ich meine Kinder bringen würde, hätte ich denn welche gehabt.
    »Das muss halten, bis wir zurück sind«, schloss Watson und ließ es sich auch nicht nehmen, Chip einen aufmunternden Klaps auf die (verletzte) Schulter zu geben.
    »Es ist auch nicht mehr weit«, antwortete Chip mit zusammengebissenen Zähnen und so, dass ich nur hoffen konnte, dass das der Wahrheit

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