Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

gigantische Schiff über eine vollkommen unspektakuläre Planke betreten, die in halsbrecherischem Winkel vom Boden zu einer halbrunden Öffnung im Rumpf hinaufführte und selbstredend nicht über den Luxus eines Geländers verfügte, dafür aber umso heftiger unter unserem Gewicht auf und ab hüpfte. Der Zugang erweckte zumindest von unten betrachtet nicht den Eindruck einer Tür – die man bei einem Schiff Schott nannte, meinte ich mich zu erinnern –, sondern gemahnte mich eher an ein aufgerissenes Drachenmaul, das nur auf ein paar Dummköpfe wartete, die freiwillig hineinspazierten.
    Und an dieser unheimlichen Assoziation änderte sich auch nichts, als wir näher kamen. Das Loch war nicht gleichmäßig geformt und so klein, dass sich selbst Chip hindurchbücken musste. Es hatte sonderbar ausgefranste Ränder, als wäre es aus dem drei Zoll dicken Stahl herausgebissen worden oder unter enormer Hitze geschmolzen. Hier und da waren lange, spitz zulaufende eiserne Stalaktiten zurückgeblieben, was die Assoziation an ein Drachengebiss noch verstärkte.
    Dahinter erwartete uns vollkommene Schwärze, sodass wir kurz innehalten mussten, damit sich unsere Augen an die veränderten Lichtverhältnisse anpassen konnten. Doch wenn man es genau nahm, war es nicht wirklich still, nicht einmal wirklich leise . Nicht einmal der dicke Stahl der Wände vermochte den infernalischen Lärm des Unwetters vollkommen zu dämpfen, der noch immer zunahm, als hätte ein übellauniger Gott nun endgültig beschlossen, die Welt in Stücke zu schlagen. Und dazu kamen die Geräusche, die aus dem Schiff selbst drangen und die wir trotz aller Umsicht selbst verursachten. Sie klangen verzerrt hallend durch die enorme Größe des stählernen Doms, in dem wir uns befanden. Zugleich war da eine gespenstische Stille, die unter allem lag und den Lauten ihre Realität zu rauben schien. Es war, als stünden wir am Tor zu einer vollkommen fremden Welt, einem Universum, das so anders war, dass menschliche Sinne es nicht zur Gänze erfassen konnten, dafür aber umso deutlicher spürten, dass etwas Wesentliches fehlte.
    Was natürlich keineswegs bedeutete, dass es auch etwas Gutes war.
    Mulligan murmelte in einem nun vollkommen unverständlichen Slang vor sich hin, während er unentwegt scheppernd in seinem Seesack grub, dann ertönte ein Summen, und neben mir glühte ein mattes, bläulich rotes Licht auf, wie ich es schon einmal gesehen hatte, nur dass es jetzt blasser war und wie der Schlag eines bizarren elektrischen Herzens pulsierte. Schweigend reichte er die Rühmkorff-Lampe an Watson weiter und förderte noch ein zweites dieser klobigen Instrumente aus seinem Sack zutage, das er ebenfalls einschaltete. Auch dessen Strahl war seltsam kraftlos und flackerte sogar noch stärker.
    »Das liegt am Gewitter«, erklärte Watson, der die entsprechende Frage wohl in meinen Augen gelesen hatte. »Die Entladungen der Blitze wirken wie elektromagnetische Pulse. Das stört den Energiefluss.«
    »Aha«, machte ich. Gut, dass er es mir erklärt hatte.
    Watson bedachte mich mit einem sacht spöttischen Blick und ließ den Strahl seiner Rühmkorff-Lampe im Halbkreis wandern. Ich hatte den Eindruck von Weite und sah tatsächlich etwas, konnte aber nicht sagen, was. Auch Mulligan schien es ganz ähnlich zu ergehen, denn seine Miene verdüsterte sich noch weiter, als er sich an Chip wandte.
    »Geh voraus«, sagte er barsch.
    Chip nickte zwar, aber ich fand, dass er reichlich unglücklich dabei aussah. Wenn er überhaupt schon einmal hier gewesen war, dann musste es lange her sein, und dieses Schiff war wirklich groß . Nach einem letzten unbehaglichen Zögern deutete er in die Richtung, in die Watsons Lampe schien. Für mich sah es einfach nur wie geraten aus.
    Wir folgten ihm trotzdem.
    Schon draußen war es nicht ungefährlich gewesen, mehr oder weniger blind durch einen Hindernisparcours aus Ersatzteilen, vergessenen Werkzeugen und allen möglichen gefährlichen Dingen zu stolpern. Hier drinnen wurde es lebensgefährlich. Wir befanden uns in einem gewaltigen eisernen Dom, in dem es nach frischer Farbe, glühendem Metall und Rost roch. Abgestandenes und mit Öl verschmutztes Wasser klatschte unter unseren Füßen, wenn wir in eine der zahllosen Pfützen traten, die das Licht der beiden Lampen wie die Scherben eines zerbrochenen Spiegels reflektierten. Zur Rechten krümmte sich eine gerippte Stahlwand in unbekannte Höhen, in allen anderen Richtungen erblickte ich nur