Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
»Ich weiß nicht genau, ob es Türen sind. Aber es sind viele. Manche sind klein.«
»Klein?« Mulligan machte ein nachdenkliches Gesicht, und ich empfand etwas ganz Ähnliches, nur dass es eher ihn betraf und nicht den Jungen. Konnte es sein, dass ich mich so sehr in ihm getäuscht hatte, und das über so lange Zeit?
Chip nickte zögernd.
»Und es gibt Gitter auf dem Boden und große Lüftungsrohre, die aus der Decke kommen?« Mulligan beantwortete seine eigene Frage praktischerweise gleich selbst mit einem Kopfnicken und fuhr jetzt eindeutig nur noch an sich gewandt fort: »Ich habe vor ein paar Tagen einen Artikel gelesen. Der Reporter hat sich darüber ausgelassen, dass die Reederei bisher noch keine Kohle geordert hat. Und es sind auch noch keine Verhandlungen über spätere Lieferungen erfolgt.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Watson. »Vielleicht hat Harland & Wolff ja feste Verträge mit seinen Zulieferern.«
»So etwas wird immer neu verhandelt«, widersprach Mulligan. »Dabei geht es um sehr viel Geld. Ein so großes Schiff verbraucht unvorstellbare Mengen an Treibstoff.«
»Das mag ja sein«, sagte ich ungeduldig. »Aber wir machen uns doch nicht gerade wirklich Sorgen um Sir Harlands Bilanzen, oder?«
»Es geht um die Kohle«, sagte Mulligan.
»Stellen Sie sich vor, das habe ich verstanden«, erwiderte ich. »Und?«
»Sehr viel Kohle«, beharrte Mulligan. »Tausende von Tonnen.«
»Und?!«
»Die nicht da sind«, fügte Watson hinzu.
»Aber dafür die Kohlebunker«, bestätigte Mulligan, und Watson schloss: »Sehr große, sehr leere Räume.«
Und endlich verstand ich. Reichlich spät, zugegeben, aber ich verstand. »Wo sind diese Kohlebunker?«
Mulligan sah sich einen Moment lang suchend um, doch anders als bei Chip gerade hatte ich das Gefühl, dass er wusste, was er tat, und auch nach etwas Bestimmtem Ausschau hielt. »Dorthin«, sagte er schließlich und deutete in die ungefähre Richtung, in die wir uns sowieso bewegten.
»Sind Sie da sicher?«, fragte ich.
»Nein«, erwiderte Mulligan gelassen. »Sie?«
Dagegen konnte ich schwerlich etwas sagen, denn in einer Situation wie der unseren war vermutlich alles besser, als nichts zu tun. Also folgten wir Mulligan, der seine Schrotflinte dergestalt auf der Lampe platziert hatte, dass die doppelten Läufe dem flackernden Lichtstrahl folgten. Ich hoffte nur, dass sein Nervenkostüm ebenso stark war, wie seine Überlegungen scharfsinnig geworden waren.
Wenigstens das Grollen des Gewitters hielt an, während wir Mulligan durch den riesigen Maschinenraum weiter in die geschmiedeten Eingeweide eines stählernen Drachen hineinfolgten, den ich immer weniger als etwas von Menschenhand Erschaffenes ansehen konnte. Mein Herz klopfte.
Wir hatten das andere Ende des Maschinenraums fast erreicht, als mir noch etwas einfiel. »Dieses Schiff läuft in wenigen Monaten aus«, sagte ich.
»In sehr wenigen«, bestätigte Watson.
»Aber das kann es nicht ohne Kohle«, spann ich meinen Gedanken weiter.
»Und spätestens dann würde auffallen, dass etwas an Bord ist, das hier nicht hingehört, ja.« Watson nickte mir gönnerhaft zu. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Ein Grund mehr zu hoffen, dass wir Erfolg haben.«
Ein Grund, der mich im Augenblick aber ziemlich kaltließ. Vorsichtshalber ließ ich das unerwähnt, während wir weiter durch kaum beleuchtete Hallen und Korridore voller Dinge gingen, die ich nicht erkennen konnte und die mich dennoch bis ins Mark erschreckten. Ich hatte Angst wie selten zuvor in meinem Leben, und es gab eigentlich nur noch einen einzigen Grund, weshalb ich nicht längst kehrtgemacht hatte und aus Leibeskräften gerannt war, bis ich ins Meer fiel oder mein Herz platzte. Dieser Grund hieß Allison. Ob ich die Augen nun schloss oder nicht, ich sah immer wieder ihr faszinierendes Gesicht vor mir und vor allem den letzten Blick, den sie mir dort unten in der Kanalisation zugeworfen hatte. Ich würde ihn nie vergessen, ob es uns nun gelang sie zu retten oder nicht. Aber wenn es mir nicht gelang, dann wollte ich auch nicht mehr leben.
Diese Entschlossenheit hatte nicht sehr viel mit dem zu tun, was Chip mir über sie erzählt hatte. Zu erfahren, dass sie meine Gefühle nicht nur tolerierte, sondern sogar zu erwidern schien, hatte mich innerlich jubilieren lassen, aber ich hätte mein Leben auch, ohne zu zögern, in die Waagschale geworfen, wäre es nicht so gewesen.
Eigentlich nur, um mich abzulenken, zwang ich mich,
Weitere Kostenlose Bücher