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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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meine Umgebung nun doch etwas genauer in Augenschein zu nehmen und alles Unangenehme möglichst auszublenden. Es gelang mir nicht. Nicht, weil ich die fremden Einflüsse nicht ganz verleugnen konnte (ich war schon immer gut darin gewesen, mich selbst zu belügen), sondern weil ich auch auf der Ebene des Normalen und Verständlichen nicht sehr viel Angenehmes sah.
    Ich hatte es bisher tunlichst vermieden, mir wirklich Gedanken über das zu machen, was uns an Bord dieses Wunderschiffes erwarten mochte, aber man lebte nicht in einer Stadt wie Belfast, ohne so viel über die Titanic zu hören, dass ich einfach eine Menge Glanz und Glamour und auch ganz unverhohlenen Prunk erwartete. Wir bewegten uns jedoch durch Bereiche des Schiffes, die nie ein zahlender Passagier zu Gesicht bekommen würde, nicht einmal die Reisenden der dritten Klasse.
    Die vorherrschende Farbe hier war Rost, dem durchdringenden Gestank frischer Ölfarbe und Lacke zum Trotz, der manchmal so intensiv wurde, dass er in der Kehle brannte und mir die Augen tränten. Flugrost, der Erzfeind jedes Ästheten, der unerbittlich jedes nicht behandelte Stück Eisen befiel und ihm das Aussehen eines hundert Jahre alten Trümmerstücks verlieh – obwohl er deutlich mehr als nur ein Jahrhundert gebraucht hätte, um einem Gebilde von dieser Größe ernsthaften Schaden zuzufügen.
    Aber das war längst nicht alles, vielleicht nicht einmal das Schlimmste. Alles hier wirkte unfertig, und was fertiggestellt war, machte einen ungeschlachten, rohen und manchmal fast schon primitiven Eindruck. Was für die schiere Größe dieses Schiffes galt, das traf wohl zumindest zum Teil auch auf seine Technik zu, ungeachtet dessen, was man in den Zeitungen las. Was nicht mit Finesse und Erfindungsreichtum gelöst werden konnte, das hatten die Konstrukteure des Schiffes mit brachialer Gewalt getan und, wie ich zu meinem Erstaunen feststellte, wohl sogar mit Erfolg. Trotzdem: Wenn Nikola wirklich in die Konstruktion dieses Schiffes involviert war, wie er ein paarmal angedeutet hatte, dann musste ich ihm dringend raten, noch etwas an der Ästhetik dieses Monsters zu tun.
    Wenn Nikola noch lebte.
    Und wenn es uns gelang, ihn zu befreien.
    Und wenn wir hinterher noch lebten und in der Lage waren, irgendjemandem einen Rat zu geben.
    Ich verbot mir, weiter in diese Richtung zu denken, und konzentrierte mich einfach nur auf die nächsten Schritte und beschäftigte mich mit der Frage, wie lange wir eigentlich schon hier drinnen waren und wie lange das Gewitter noch vorhalten würde.
    Natürlich fand ich weder auf die eine noch auf die andere Frage eine Antwort. Mein Zeitgefühl war längst auf der Strecke geblieben, und was das Gewitter betraf, so ging es mir wie den allermeisten anderen: Ich hatte natürlich das eine oder andere schwere Unwetter erlebt, aber niemals wirklich darüber nachgedacht, wie lange sich ein Gewitter durchschnittlich hinzog. Meine Logik folterte mich mit dem Gedankengang, dass es sich vermutlich umso schneller selbst verzehrte, je wütender es tobte. Und wir waren schon viel zu lange im Innern des Schiffes.
    Wenn ich bedachte, dass hier angeblich bis zu viertausend Menschen gleichzeitig arbeiten sollten, hätten wir ununterbrochen auf Überlebende treffen müssen, doch das Schiff blieb gespenstisch leer. Ein- oder zweimal meinte ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrzunehmen oder ein Geräusch zu hören, aber immer wenn ich genauer hinsah oder mich zu konzentrieren versuchte, war da nichts. Ich war einfach nur nervös, das war alles.
    Und ich begann mich allmählich ganz ernsthaft zu fragen, ob es vielleicht Dinge gab, an die man besser nicht dachte, wollte man nicht Gefahr laufen, sie damit heraufzubeschwören, denn als wir den nächsten flugrostroten Raum betraten, standen wir gleich drei Männern gegenüber, die uns allesamt finster anstarrten und schwere Schraubenschlüssel oder andere zu Waffen umfunktionierte Werkzeuge in den Händen hielten.
    Allerdings rührten sie sich nicht. Sie standen vollkommen reglos da, nicht nur wie , sondern als seien sie tatsächlich Statuen.
    Mulligan gab mir trotzdem seine Lampe und näherte sich den Männern in einem weiten Halbkreis, sein Gewehr mit beiden Händen weiter auf sie gerichtet. Den letzten Schritt legte er zollweise zurück, streckte schließlich die linke Hand aus und berührte unendlich behutsam die Schulter des ersten Mannes. Ein erstaunter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
    »Mulligan?«, fragte Watson

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