Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
machen? Worüber denn? Ich kannte Allison Carter gerade einmal ein paar Tage und fand sie nett, mehr aber auch nicht. Was bildete sich dieser unverschämte Bursche eigentlich ein?
Und wieso, fragte ich mich selbst, reagierte ich eigentlich so heftig, noch dazu auf etwas, das noch nicht einmal direkt ausgesprochen worden war?
Nikola sah mich noch eine Weile an und wartete vielleicht auf eine ganz bestimmte Reaktion, merkte aber schnell, dass er sie nicht bekommen würde. Er schlenderte zu einem der großen Fenster, machte aber direkt davor kehrt und steuerte ein weiter entferntes Fenster an. Als er es erreicht hatte und in die Jackentasche griff, verstand ich auch, warum. Er zog eines der blitzenden Metalltrümmer hervor, die er im Keller aufgehoben hatte, und hielt es in das schwache Licht, das von draußen hereinkam, um es einer eingehenden Musterung zu unterziehen.
Ich schüttelte mit einem lautlosen Seufzen den Kopf und verlegte mich meinerseits darauf, mich in dem großen Raum umzusehen. Was ich in dem schwachen Licht erkannte, entsprach so genau meinen Erwartungen – hätte ich denn welche gehabt –, dass ich fast schon ein bisschen enttäuscht war. Es gab einen riesigen Schreibtisch, hinter dem selbst ein Mann von Jacobs’ beeindruckender Statur verloren wirken musste, und dahinter wiederum das obligatorische deckenhohe Bücherregal, das einen monströsen Kamin einrahmte. Ich bezweifelte, dass Jacobs auch nur eines dieser Bücher gelesen hatte, doch dieser geballte Aufmarsch an goldgeschnittenem und ledergebundenem Wissen verfehlte seine Wirkung auf die meisten Besucher wohl kaum – und wenn doch, dann gab es an einer anderen Wand auch noch ein zweites und kaum kleineres Angebot anderer spiritueller Dinge, nämlich eine fast ebenso große Bar, in der Dutzende Flaschen Hochprozentiges standen.
Nach allem, was wir erlebt hatten, war mir jetzt ebenfalls nach einem kräftigen Schluck, sodass ich überlegte, mir ein Gläschen zu genehmigen, nahm dann aber wieder Abstand von diesem Gedanken, denn ich wäre mir wie ein Leichenfledderer vorgekommen, mich an Jacobs’ Vorräten zu bedienen.
Stattdessen griff ich in die Jackentasche und grub nach meinem Zigarrenetui. Ich wurde fündig, aber das war auch schon der einzige Erfolg. Mein unfreiwilliger Ausflug in die Unterwelt von Harland & Wolff hatte dem ohnehin angeschlagenen Lederetui den Rest gegeben und es zu etwas gemacht, das eher wie zehn Jahre altes trockenes Laub aussah und sich auch so anfühlte, als ich mit dem Daumen darüberstrich. Und übrigens auch so roch wie das, was wir dort unten verbrannt hatten. Ich sparte mir gleich die Mühe, es aufzuklappen und nachzusehen, welches traurige Schicksal den Zigarren darin widerfahren war.
»Hinter der Bar ist eine Kiste bester Cohibas«, sagte Nikola vom Fenster her und ohne sich auch nur nach mir umzudrehen. »Bedienen Sie sich ruhig. Ich glaube nicht, dass Jacobs es merkt.«
Dem Whisky hatte ich widerstehen können, doch nun trat ich mit schnellen Schritten um die Bar herum, stellte ohne große Überraschung fest, dass das Wort Kiste durchaus ernst gemeint war. Ich entnahm ihr mit fast ehrfürchtigen Bewegungen eine Cohiba, immerhin die teuerste Zigarre der Welt, für die einer von Allisons heiß geliebten Arbeitern mindestens einen Monat würde schwitzen müssen. Drei weitere steckte ich ein, ohne meinem Gewissen auch nur die Chance zu geben, sich zu regen, erst dann griff ich nach dem silbernen Streichholzspender und nahm einen ersten vorsichtigen Zug. Dann noch einen und einen weiteren und noch einen. Ein Teil von mir hatte wohl erwartet, enttäuscht zu werden, aber das Gegenteil war der Fall. Ich verstand plötzlich, warum Männer wie Stanley Jacobs so viel Geld für einen so flüchtigen Genuss ausgaben.
Ich steckte das abgebrannte Streichholz sorgsam in die Jackentasche und ging die mehr als zehn Schritte zu dem Fenster, das Nikola zuerst angesteuert hatte, um mich zu orientieren. In der Ferne erkannte ich die schwach vom Gegenlicht erleuchtete Silhouette des Albert Memorial Clock Tower, der dem Londoner Big Ben nachempfunden war. Es war typisch Belfaster Pfusch: Da bei der Stabilisierung des matschigen Baugrunds an allen Ecken und Kanten gespart worden war, war der Turm schon nach wenigen Jahren leicht zur Seite abgesackt, was ihm den spöttischen Beinamen Belfasts schiefer Turm von Pisa eingebracht hatte.
Den Belfastern selbst konnte man dabei allerdings den geringsten Vorwurf machen. Die durch
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