Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Sucht ist keine Sünde. Wer sich etwas darauf zugutehalten möchte, nicht süchtig zu sein, der sollte wissen, dass es sogar einen Erbfaktor gibt, für den niemand verantwortlich ist. Außerdem kann jeder Mensch in eine tragische Situation geraten, in der er mit süchtigem Verhalten reagiert. Es sind dann gerade die besonders sensiblen Menschen, die von Suchtmitteln abhängig werden. Wer hemmungslos über Leichen gehen kann, der wird kaum süchtig. So repräsentieren die Süchtigen den Schatten einer Gesellschaft von Normalen, die die Menschen im Licht zu immer unerreichbareren Zielen treibt und für die Scheiternden nur noch das Dunkel und die Nischen am Rande übrig hat. Für die Dünnhäutigen und Einfühlsamen ist da kein Platz mehr. Es wird kälter und die coolen aalglatten Typen sind die privilegierten Überlebenskünstler in
einer reibungslos funktionierenden Welt, in der die humanitäre Temperatur sinkt. Süchtige strahlen oft mehr menschliche Wärme aus. Nicht selten sind sie feinfühliger als Normale, und es sind andererseits die hemmungslos Normalen, die mit ihrer rücksichtslosen Aggressivität Menschen in die Sucht treiben können. Auch wenn die Therapie sich sinnvollerweise auf die Verantwortung des Patienten für sein Verhalten konzentriert. Dieser Aspekt ist keineswegs die ganze Wahrheit. Und wer die anstrengende Lebensgeschichte mancher Süchtiger verfolgt hat, der kann nur Hochachtung vor den manchmal fast übermenschlichen Mühen dieser Menschen haben, die immer wieder scheitern und immer wieder neu anfangen.
Wer sich angewöhnt hat, den Blick auf die Fähigkeiten der Patienten zu richten, der entdeckt gerade bei Süchtigen reiche Schätze. Obdachlose Alkoholiker hält man gemeinhin für Menschen, die gar nichts können, die völlig gescheitert sind. Schaut man genauer hin, ergibt sich ein anderes Bild. Kaum ein Normaler wäre in der Lage, im Winter in Köln auch nur eine Woche als Obdachloser klarzukommen: jeden Tag aufs Neue seinen Platz für die Nacht zu organisieren, Essen und vor allem Trinken, um dem Entzug zu entgehen. Dafür braucht man gute soziale Beziehungen, die täglich gepflegt werden wollen. Welcher Normale könnte das schon aus dem Stand? Macht man sich das klar, geht man viel wertschätzender mit solchen Patienten um, und dann ergibt sich eine kooperative Therapiebeziehung ganz von allein. Wir behandelten immer wieder einen schwer alkoholabhängigen Patienten, der obdachlos war und im Rollstuhl saß, der aber stets viel zu kurz blieb. Das lag daran, dass er sich sein Geld mit Betteln verdiente und den Verdienstausfall vermeiden wollte. Wir haben dann eine »rheinische Lösung« gefunden. Er machte nachmittags ein »Praktikum« in der Fußgängerzone und blieb dadurch endlich lange genug. Je mehr man sich mit Süchtigen befasst, desto mehr Respekt nötigen sie einem ab. Und man schämt sich mitunter für all die kaltherzigen Normalen, die meinen, so viel besser zu sein als »die da«.
Erst im Jahr 1968 wurde in Deutschland durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts Alkoholabhängigkeit als Krankheit anerkannt. Das nahm ihr das Stigma der Sünde und gab den Patienten endlich das Recht auf Therapie.
Die Alkoholabhängigkeit ist eine ernste Erkrankung. Die Suizidgefährdung, das heißt, die Gefahr, dass sich der Patient das Leben nimmt, ist erheblich. Alle Organe des Körpers werden geschädigt - nicht nur die Leber. Man unterscheidet unterschiedliche Typen des Alkoholismus: Problemtrinken, Gelegenheitstrinken und dann die schwereren Formen, den chronischen Alkoholismus mit massiven Alkoholexzessen, die Spiegeltrinker, die ihren Alkoholspiegel immer konstant halten, nie exzessiv betrunken, aber auch nie nüchtern sind, und schließlich die Quartalstrinker, die zwischen ihren Alkoholexzessen keinen Alkohol konsumieren. Frauen vertragen übrigens im Schnitt nur ein Drittel der Alkoholmengen, die Männer vertragen.
Bei der Alkoholabhängigkeit gibt es noch einige merkwürdige Phänomene. Da ist die Alkoholhalluzinose, die bei langjähriger Alkoholabhängigkeit auftreten kann. Der Patient hört Stimmen, und zwar oft aus einer Steckdose oder aus anderen Gegenständen. Im Unterschied zu wahnhaften Halluzinationen weiß er, dass das eigentlich gar nicht sein kann. Dennoch ist so etwas begreiflicherweise für einen Menschen sehr beunruhigend. Ich erinnere mich an eine Patientin, die ihren verstorbenen Verlobten Willi immer aus einer Cola-Dose reden hörte.
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