Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
kumpelhaft klarzumachen, dass er gar kein Alkoholiker sei: »Wissen Sie, Herr Doktor, jeder trinkt doch mal ein bisschen...« Da entfaltete man dann als junger Arzt die ganze Drohkulisse der alkoholbedingten Katastrophe, was regelmäßig damit endete, dass der Patient, wenn er so weitermache, sich demnächst die Radieschen von unten anschauen müsse. Während man selbst am Schluss einer solchen ellenlangen Debatte, die beim Patienten nicht das Geringste bewirkte, mit den Nerven ziemlich am Ende war, saß vor einem ein vergleichsweise entspannter Mensch, der einen in freundlichem Ton beruhigte: »Nehmen Sie es nicht so schlimm, Sie meinen es ja gut, aber ich bin nun mal kein Alkoholiker...« Erst viel später wurde mir klar, dass der Patient natürlich jahrelang für ein solches Gespräch trainiert hatte. Er kannte diese bedrängenden Gespräche nämlich zur Genüge von seiner Ehefrau, von Freunden, von Angehörigen, die in zunehmender Verzweiflung den Druck immer weiter erhöht hatten, so dass der Patient immer besser gelernt hatte, solchen »Motivationsgesprächen« auszuweichen.
Nun sollte man denken, das Gegenteil, der erfolgreich missionierte Patient, sei für den Therapeuten eine Labsal. Aber weit gefehlt. Da sitzt dann ein strahlender Patient vor dem Therapeuten
und erklärt sofort bereitwillig, dass er wieder getrunken habe. In leicht belehrendem Ton erläutert er, er sei nämlich Alkoholiker, habe »Suchtdruck« gehabt und deswegen getrunken. Dann sei der bei Alkoholikern übliche »Kontrollverlust« eingetreten und jetzt sei er eben wieder da. Was nun? Was sollen Sie als Therapeut einem solchen Patienten noch erklären? Der weiß doch schon alles! Der missionierte Patient kann manchen Therapeuten ratloser machen als das zu missionierende Greenhorn.
Therapeutisch wird man aus heutiger Sicht in beiden Fällen auf die Verantwortung des Patienten abheben und seine Wahlfreiheit stärken. Wir achten daher sehr auf eine wertschätzende kooperative Beziehung zu den Patienten und richten den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf die vorhandenen Fähigkeiten. Das sind diese Menschen oft gar nicht gewohnt. Sie erwarten von Therapeuten wie von allen anderen Menschen die Frage: »Warum sind Sie rückfällig geworden?« Dabei ist diese Frage gar nicht besonders interessant. Nicht selten sind es immer dieselben Situationen und es ist immer wieder beschämend für den Patienten, seinen »Sündenfall« zu beschreiben. Viel nützlicher ist die Frage: »Wie haben Sie eigentlich Ihren Rückfall beendet?« Manch resignierter Patient, der auch von Therapeuten vielleicht nur noch weitere Demütigungen erwartet, antwortet dann: »Die Flasche war leer, Herr Doktor.« Doch wenn man freundlich sagt: »Wenn einer von uns beiden weiß, wo er eine neue Flasche herbekommt, dann sind das doch wahrscheinlich Sie«, dann nickt der Patient und erzählt nun, dass er doch an seine Frau gedacht habe, an seine Kinder, und da habe er sich entschlossen: »Jetzt gehst Du in Therapie!« Mit feuchten Augen sitzt der Patient dann da, und wer als Therapeut so fragt, ist manchmal ganz ergriffen von den unglaublichen Bemühungen und den Kämpfen, die Alkoholiker unternehmen, um immer wieder aufzustehen. Ein solcher Gesprächseinstieg lässt den Patienten nicht von ganz tief unten zum Therapeuten aufblicken, sondern auf diese Weise kann der Patient dem Therapeuten auf Augenhöhe als jemand begegnen, der etwas geschafft hat und weiter vorangehen will.
Wir haben dann die Aufgabe, den Patienten objektiv auf dem heutigen Stand der Wissenschaft über seine Lage zu informieren sowie über die Hilfsmöglichkeiten, die es gibt und unter denen er wählen kann, was er für am nützlichsten hält. Dabei muss sich der Patient nicht auf bei Suchttherapeuten beliebte Begriffe festlegen. Ob er nun »Alkoholiker« ist oder ob er »Probleme mit dem Alkohol« hat, ist für eine aussichtsreiche Therapie ohne Belang. Auch ob er sich für immer oder nur erst mal für eine gewisse Zeit zur Abstinenz entschließt, ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass der Patient den Eindruck hat, dass er offen reden kann, sich nach guter Information selber für die Maßnahmen entscheiden kann, die er für hilfreich hält, und nicht auf irgendwelche gern gehörte Planungen festgelegt wird. Entscheidend sind nicht heilige Schwüre, er wolle keinen Alkohol mehr trinken, sondern die wirklich spannende Frage ist, was er denn tun kann oder tun möchte, anstatt Alkohol zu trinken.
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