Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
führte, durch eine richtig dosierte Medikation den Weg aus dem Wahn heraus fanden, der ist gegen jede ideologische Medikamentenfeindschaft immun.
4. Schizophrene und Normale - Eine irritierende Beziehung
Freilich erlebt der Patient nicht nur die Wirkungen, sondern auch die unerwünschten Nebenwirkungen. Daher ist es gut, erfahrene Kranke kooperativ in die Behandlung einzubeziehen, damit sie selbst die entlastenden Wirkungen mit den belastenden
Nebenwirkungen abwägen können. Es gab Patienten, die die wissenschaftliche Literatur über Neuroleptika gut kannten und denen ich zum Beispiel ein neues Neuroleptikum vorstellte, ihnen die wissenschaftliche Begleitliteratur mitgab, so dass sie selber entscheiden konnten, ob sie einen Versuch mit dem neuen Medikament machen wollten. Es ist auch gut, wenn krankheitseinsichtige Patienten lernen, die Dosis ihrer Medikamente selbst mit zu steuern. Sie erleben dann die Medikamente wirklich als Heilmittel und sich selbst als Manager der eigenen Krankheit. So lernen sie auch, sich nicht zu überfordern, aber auch nicht zu unterfordern und sich in akuten Phasen zurückzuziehen, so dass ihre verletzliche seelische Haut keinen Schaden erleidet. Es gibt auch Selbsthilfeinitiativen, in denen sich Betroffene austauschen und lernen, selbstbewusst ihre Rechte wahrzunehmen, auch gewissen Ärzten gegenüber, die nicht genug auf die Selbstbestimmung des Patienten achten. Erfahrene Patienten wissen von ihrer Krankheit viel mehr als wir hochstudierten Doktoren. Und da tut unsereins ein bisschen Bescheidenheit gut.
Wichtig ist für chronisch schizophrene Patienten eine übersichtliche Struktur. In einem Wohnheim, das ich betreute, herrschte das emotionale Chaos. Jeder versuchte jeden zu verstehen, man redete über Gefühle, verhielt sich den Patienten gegenüber, wie sich Freunde oder Kumpel verhalten. Die Patienten wurden immer wieder ins Krankenhaus eingeliefert. Da kam ein Sozialarbeiter als neuer Leiter, der klare Strukturen einführte. Die Mitarbeiter wurden ab sofort alle mit »Sie« angeredet und die Patienten natürlich auch. Patienten konnten sich bei der Heimleitung wirksam beschweren, es gab aber auch gewisse Anforderungen an die Eigenverantwortung der Bewohner. Die Atmosphäre änderte sich schlagartig. Die Patienten wirkten plötzlich viel erwachsener, die Zahl der Krankenhausaufenthalte ging drastisch zurück, und der ausgeprägt chronisch schizophren kranke Herr L., der sonst nur Wortsalat produzierte und mir seitenlange komplett unlesbare Texte schenkte, ging auf neue Mitarbeiter zu mit der völlig klaren Bemerkung: »Ich heiße Herr L. Und ich werde gesiezt.« Es
wurden persönliche Grenzen respektiert und das hatte auf alle Patienten einen heilsamen Effekt.
Dieser Patient war übrigens trotz seiner manchmal etwas unnahbaren Art sehr sympathisch. Ab und zu wollte er nach Straßburg zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, wurde dann aber regelmäßig von der Polizei aufgegriffen und wieder zurückgebracht. Er war dann auf die Polizisten ziemlich sauer und führte monatelang seinen Prozess wieder von seinem Zimmer aus, in dem ellenlange Schriftsätze entstanden, die völlig unverständlich waren. Dennoch bot er Lesungen aus diesen Texten für Bewohner und Mitarbeiter an. Er bestand dann bei seinen Zuhörern streng auf Aufmerksamkeit, doch außer Wortsalat in einer höchst subjektiven Sprache, die allenfalls er selbst verstand, kam dabei nichts heraus. Trotzdem hatten ihn alle gern.
Wahrscheinlich hatte das damit zu tun, dass man Schizophrenen anmerkt, dass sie empfindsamer sind als andere Menschen. So etwas ist aber eben auch eine Fähigkeit. Es gibt da Dichter wie Hölderlin und in unserer Zeit Robert Walser, der lange Zeit seines Lebens in einem psychiatrischen Krankenhaus zubrachte. Auch der Maler van Gogh litt wohl unter schizophrenen Schüben. Ich kannte einen jungen, sehr frommen Mann, der in einen Orden eintreten wollte. Obwohl er unter einer Psychose litt, konnte er die beiden Welten, in denen er zeitweilig lebte, sehr gut trennen. Die Ordnung im Kloster tat ihm gut und er führte mit seiner Krankheit ein zwar anstrengendes, aber gerade deswegen überzeugendes Ordensleben. Manchmal kann ein schizophrenes Ordensmitglied, das die Klosterfamilie mitträgt, auch seinerseits der Gemeinschaft in der Art, wie es seine Krankheit lebt, tiefe spirituelle Anregungen geben.
Menschen mit Schizophrenie sind genauso gescheit wie all die Normalen, aber sie neigen
Weitere Kostenlose Bücher