Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus
tagsüber weinend saß, trocknete ihre Tränen, trat hochaufgerichtet vor die überraschten Freier und hob mit heftigen Worten zu reden an. »Ist’s nicht genug, dass ihr den Königspalast entehrt und schändet und wie eine Pest auf dem Land liegt!«, schalt sie in loderndem Zorn. »Trachtet ihr nun auch danach, das Königsgeschlecht auszulöschen und meinen Sohn Telemach in den schwarzen Hades zu senden? Fluch über euch alle, Fluch, Fluch, Fluch! Mögen die Himmlischen euch noch diese Stunde bestrafen!«
Aber Eurymachos, der reichste und verschlagenste der Freier, erhob sich und sprach: »Töricht redest du, Penelope, töricht und unwahr; wer weiß, welcher Narr und Verleumder dir diese Lügen eingeblasen! Niemand von uns hegt solche Pläne! Ja, ich sage dir, wenn einer es wagen sollte, Hand an meinen jungen Freund Telemach zu legen, so würde ich ihn auf der Stelle mit meinem Speer durchstoßen! Wie oft hat mir Odysseus doch Gastfreundschaft gewährt, wie oft mich beschenkt und wie herzlich mich immer bewirtet! Glaubst du, ich könnte ihm das jemals vergessen?«
Also sprach er und schüttelte den Speer in der Rechten; insgeheim aber dachte er, wie süß es für ihn wäre, diese Waffe in Telemachs Herz zu senken. Penelope aber traute ihm nicht und stieg hinauf in den Söller und sann verzweifelt nach einer Rettung und fand sie nicht.
Odysseus geht in die Stadt
Am nächsten Morgen stand Telemach auf, band sich die Sohlen unter die Füße und sprach zu Eumaios: »Väterchen, ich will in die Stadt gehn und der Mutter berichten! Dir aber befehle ich, auch den Fremdling in den Palast zu führen, möge er dort selbst seine Notdurft erbetteln! Auf mir lasten Sorgen genug; ich kann mich unmöglich noch mit fremder Bürde beladen!«
»Dies ist auch mein Wunsch, edler Jüngling«, rief Odysseus; »doch gestatte mir, Lieber, noch etwas zu verweilen und dir später zu folgen; der Morgenfrost beißt grimmig, und ich habe nichts als meine Lumpen am Leib; lass mich die wärmende Sonne abwarten!«
Telemach nickte Gewährung und machte sich auf den Weg in die Stadt. Im Palast angelangt, eilte er, ohne auf die Freier zu achten, zu seiner Mutter Penelope und berichtete ihr von seiner Reise nach Pylos und Sparta; dass Odysseus im Lande weilte, verriet er jedoch nicht.
Als die Sonne am halben Himmel stand, hängte sich Odysseus seinen geflickten Ranzen um die Schulter, bat Eumaios um einen Stab zur Stütze und ging mit ihm den kiesligen Pfad zur Stadt hinunter. Kurz vor den Mauern stießen sie auf den Zie gen hirten Melantheus, der mit seinen Männern von Odysseus und Telemach abgefallen war und sich den Freiern verschrieben hatte. Als Melantheus die beiden Alten auf ihre Stäbe gestützt die staubige Straße hinabwandern sah, lachte er schallend auf und rief: »Wahrlich, man sagt nicht mit Unrecht, ein Taugenichts leite den andern und gleich zu gleich geselle sich gern! Wo hast du elender Sauhirt denn dieses Stück Dreck aufgetrieben? Lass dir ja nicht einfallen, diesen Landstreicher in den Palast zu führen, dass er dort die edlen und mächtigen Freier durch sein Gebettel belästige! Sie würden ihm mit Recht nur Knochen und Holzscheite an den Glatzkopf werfen und ihm die Rippen im Leib zerbrechen!«
Da er dies sagte, trat er mit aller Kraft Odysseus in die Leiste. Odysseus packte den Stab wie ein Schwert und wollte dem Frechen den Schädel zerschmettern, doch fasste er sich noch und stand ohne zu wanken. Melan theus aber lachte hämisch und ging seines Wegs.
Odysseus vor den Freiern
Als die beiden den Palast erreicht hatten, ging Eumaios in den Saal, wo die Freier zechten; Odysseus aber musterte Säule um Säule und First um First des prächtigen, mit einer doppelten Flügeltür bestückten Palastes mit tränenfeuchtem Blick, dann setzte er sich, wie es Bettlern geziemt, an die Schwelle des Festsaales, um abzuwarten, bis er hineingerufen werde. Da er aber so saß und seine Blicke schweifen ließ, entdeckte er auf dem Dunghaufen in der Ecke des Innenhofes seinen Hund Argos, den er selbst noch gezähmt und großgezogen hatte. Als er ihn verlassen, war das Tier das kräftigste und flinkeste der Koppel gewesen, ein unermüdlicher Jäger wilder Ziegen, Hasen und schnellfüßiger Rehe; nun aber lag er räudig und krank auf den Mist geworfen, und keiner kümmerte sich um ihn. Odysseus bebte das Herz vor Empörung, doch er blieb auf der Schwelle sitzen, denn er war ja ein Bettler; der Hund aber hatte die Nähe seines geliebten
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