Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
Vom Netzwerk:
der Vorarbeiter. Dabei hob er zwei Finger und spreizte sie zu einem V. Das bedeutete victoire, Sieg.
    Der Regen hatte nachgelassen. Als sie sich dem Boot näherten, hörte Gerber aus den vielen Geräuschen des Hafens schon wieder die Stimme des Kommandanten heraus. Sein Opfer war diesmal ein Zivilist. Der Mann trug eine hüftlange, verblichene Wetterjacke; die Hände hatte er in den weiten Taschen vergraben. Gerber erkannte den Dolmetscher der Flottille, Monsieur Henri. Offenbar lief ein Privatgeschäf t nicht so, wie der Kommandant es wünschte.
    Monsieur Henri war ein überaus wendiger Mann. Er stammte aus dem Elsaß. Deutsch und Französisch sprach er fließend. Bei schwierigen Verhandlungen mit Werften, Lieferbetrieben oder Handwerkern war er für die Flottille unentbehrlich. Ebenso unentbehrlich war er, wenn es darum ging, den Offizieren besondere Mangelware zu beschaffen. Henri hatte gute Beziehungen zu Schieberkreisen. Er kannte viele Leute in Saint-Malo, aber viele Leute kannten auch den Kollaborateur Henri.
    Monsieur Henri hielt den Krieg zwischen Deutschland und Frankreich für ein großes Unglück. Die beiden Länder sollten zusammengehen, am besten gegen die Briten. Gemeinsam könnten sie Europa beherrschen, oder wenigstens die Hälfte davon. «Wenn sich Deutschland und Frankreich einig sind», sagte er, «haben die Briten außerhalb ihrer Insel nichts mehr zu bestellen.» Wäre es nach Henri gegangen, hätte Frankreich im Jahre 1940 die Seiten gewechselt.
    Mit dieser Ansicht stand er in Saint-Malo so gut wie allein da. Männer wie Lebrun ballten die Hand zur Faust, sobald sie den Elsässer sahen. Henri wußte das.
    Bei Dunkelheit wagte er sich nicht in die Stadt, er hätte leicht ein Messer zwischen die Rippen kriegen können.
    Henri war kein Held. Als er Lebruns Arbeiter in dem Ruderboot bemerkte, zog er es vor, so schnell wie möglich von Bord zu kommen.
     
    Abends saß Gerber mit Leutnant Adam allein in der Messe. Der Leutnant war gutgelaunt, er sollte am nächsten Tag in Urlaub fahren. Da nahm Gerber all seinen Mut zusammen und brachte eine Frage vor, die ihn schon eine Zeitlang quälte: Er habe gehört, auch Fähnriche seien in gewissen Regionen der «gehobenen Geselligkeit» stillschweigend geduldet ...
    Dem Leutnant waren diese Sorgen nicht unbekannt. Bereitwillig gab er Auskunft. Er erzählte auch, wie er selbst von einem älteren Kameraden gewahrschaut wurde, ehe er sich zum ersten Male in das betreffende Etablissement traute.
    Gerber erhielt eine Menge Verhaltungsmaßregeln. Adam schärfte ihm noch ein, auf keinen Fall dem Alten dort zu begegnen. Rauh war einmal in der Woche Ofzier vom Dienst, diesen Tag sollte Gerber abpassen.
    Das gesuchte Gebäude, ein ehemaliges Hotel, befand sich in der Rue Surcouf. Gerber lächelte. Der alte Seeräuber hätte nicht schlechtgestaunt, wozu sein Name herhalten mußte.
    Ein wenig beklommen stieg Fähnrich Gerber die wenigen Stufen empor, die in den «Salon» führten. Der große Raum war durch spanische Wände und hohe Blattpflanzen in kleinere Nischen aufgeteilt. Wandlampen gaben nur spärliches Licht. Im Hintergrund war eine Bar. Auf den Hockern saßen Mädchen in langen Abendkleidern.
    In der Mitte des Salons stand eine aufgetakelte, etwas üppige Frau. Ihr grellrot gefärbtes Haar war zu einer kunstvollen Frisur getürmt. Sie war über und über mit Schmuck behängt. Ihre Zigarette rauchte sie aus einer langen Spitze.
    Das war also die «Madame»! Bei der schummrigen Beleuchtung sah sie aus wie vierzig, war aber bestimmt älter. Sie gab ihm die Hand, und Gerber nannte seinen Vornamen. Mehr war hier nicht erforderlich. Dann erkundigte sie sich, wie lange er im Hause zu bleiben gedenke. Auch seine finanzielle Lage kam diskret zur Sprache.
    Der Leutnant hatte Gerber geraten, ihr freimütig und ohne Scheu seine besonderen Wünsche mitzuteilen. Auf die entsprechende Frage sagte Gerber: «Se suis jeune, et je veux apprendre quelque chose. Ich bin jung und möchte etwas lernen.»
    Dafür hatte die Madame durchaus Verständnis. «Niki», sagte sie halblaut.
    Sofort glitt ein blondes Mädchen vom Barhocker und kam auf Gerber zu. Sie mußte aufgepaßt haben wie ein Luchs, sonst hätte sie den leisen Anruf nicht hören können. Gerber war überrascht, mit welch eiserner Disziplin die Mädchen ihrer Chefin «einsatzmäßig» unterstanden.
    Die Madame beeilte sich, Gerhard und Dominique miteinander bekannt zu machen. Dominique war sehr hübsch. Sie trug ein

Weitere Kostenlose Bücher