Irrfahrt
sich. Er diktierte ihm ein umfangreiches Beschwerdeschreiben, das von vulgären Ausdrücken strotzte und in der Forderung gipfelte, den Fähnrich Bellmann zum Matrosen zu degradieren und zur Strafabteilung zu versetzen.
Bellmann wurde versetzt. Allerdings nicht zur StrafabteiJung, sondern auf ein anderes Boot. Der Flottillenchef kannte Rauh; der alte Polterkopf hatte hier zweifellos überzogen. Bei Disziplinverstößen war die Marine in der Regel nicht zimperlich, schon gar nicht unter dem neuen Oberbefehlshaber Dönitz. Bellmann wurde zum Bootsmaat degradiert. Die Degradierung bereitete dem Chef einiges Kopfzerbrechen. Bellmann war nur Fähnrich der Reserve gewesen. Eigentlich müßte er nun Bootsmaat der Reserve werden, aber einen solchen Dienstgrad gab es normalerweise nicht.
«Bootsmaat der Reserve» Olaf-Hilmar Bellmann stellte erfreut fest, daß er einen guten Tausch gemacht hatte. Der neue Kommandant war wesentlich angenehmer. Auch konnte er mittags so viel und so langsam essen, wie er wollte. Seinem alten Kommandanten lief er zu dessen Verdruß ständig über den Weg, da beide Fahrzeuge ihre Liegeplätze unmittelbar nebeneinander hatten.
Der Wind frischte auf. Tagelang wehte ein heftiger Sturm. Es regnete.
Es regnete durch. An einer Stelle war das Holzdeck undicht. Dort wurde immer die schwere Rabatzboje eingehievt und auf die Planken geknallt. Einige Bohlen hatten gelitten. Ausgerechnet unter dieser Stelle befand sich Rauhs Kammer.
Der Bootsmann bekam eine Abreibung, die bis nach Südengland als mittleres Erdbeben registriert werden konnte. Anschließend erhielt Gerber natürlich in derselben Tonlage - den Auftrag, schnellstens für Reparatur zu sorgen. «Machen Sie diesen vermoderten Werftheinis ein kräftiges Feuer unter den Schwanz!»
Das war leichter gesagt als getan. Zunächst ließ sich Gerber von Leutnant Adam zwei Tage dienstfrei geben. Er verzichtete sogar auf die warmen Mahlzeiten. Solange der Regen tropfte, war es ratsam, dem wutschnaubenden Kommandanten möglichst wenig zu begegnen.
Gerber fragte auf den Verwaltungen. Niemand wollte ihm helfen. Der Hafen lag voll beschädigter Fahrzeuge. Man riet ihm, zu der kleinen französischen Bootswerf Lebrun & Cie. zu gehen. «Viel Hoffnung machen wir Ihnen aber nicht ...»
Im strömenden Regen zog Gerber los, vorbei an verrostetem Gerümpel. In der Werf t fragte er nach dem Chef. Der Patron sei nicht da, hieß es.
Am nächsten Morgen dasselbe. Beim dritten Anlauf traf Gerber einen alten Bekannten: den Vorarbeiter, der damals - ein Jahr war das nun schon her - auf dem MBock das Kalfatern geleitet hatte. Er brachte ihn zum Patron, der natürlich da war, nur für Deutsche grundsätzlich nicht.
«Monsieur Lebrun ... », begann Gerber mit aller gebotenen Höflichkeit.
«Reden Sie mich nicht mit meinem Namen an!» rief der Patron. «Le brun: der Braune! Als ob ich ein Faschist wäre, zu Laval hielte oder zu dem vertrottelten Petain!» Er machte eine drohende Handbewegung. «Ich bin ein guter Franzose! Wenn dieser Krieg vorbei ist, lasse ich meinen Namen ändern ... Braun ist ... » Er sprach so schnell, daß Gerber ihm nicht mehr folgen konnte. Sein letztes Wort war «merde».
Lebrun haßte die Deutschen. Und er haßte alle Franzosen, die mit den Okkupanten zusammenarbeiteten. Früher hatte er Kutter gebaut, jetzt war nur eine geringe Küstenfischerei möglich. Die Steuern fraßen alles auf, die Steuern und die Besatzer. Niemand hatte Geld, ein Boot anfertigen zu lassen. Um seine Arbeitskräfte zu halten und sie vor dem Zugrif f der Besatzer zu bewahren, mußte er gegen seinen Willen gelegentlich Aufträge der Kriegsmarine annehmen.
Gerber blieb hartnäckig und höflich. Das machte auf Lebrun einen gewissen Eindruck. Höfliche Deutsche waren selten im besetzten Frankreich. Die meisten traten herrisch auf, schnauzten, manche zogen gleich die Pistole. Schließlich war Lebrun bereit, sich die Sache zu überlegen. Nach einer weiteren Viertelstunde zähen Ringens erhielt Gerber eine halbe Zusage. Aber das war noch zuwenig, um vor Rauh hintreten zu können. Gerber holte den Vorarbeiter zu Hilfe. Mit vereinten Kräften gelang es, den Auftrag festzumachen. Gerber konnte den Vorarbeiter, zwei Zimmerleute und einige Bohlen Teakholz gleich mitnehmen.
Quer über den Hafen ruderten sie zum Vorpostenboot. Gerber bot Zigaretten an. Die Männer wurden gesprächig. Sie verhehlten nicht, daß sie hinter ihrem Patron standen. «Ein Jahr, Hitler kaputt», sagte
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