Irrfahrt
abblasen. Sekunden später zischte ein weißer Strahl aus dem Dampfrohr neben dem Schornstein. Der Signalgast hißte den schwarzen Ball: Rauhs Dampfer war manövrierunfähig.
Alle machten sich nun auf das Ende gefaßt. Da geschah ein Wunder: die ThunderboIts drehten ab. Sie hatten ihre Munition verschossen und sämtliche Bomben abgeladen.
Zwei Logger kamen längsseits, um den schwer getroffenen Dampfer mit einem Stander zu unterfangen. Im Schlepp lief das Päckchen in Richtung Hafen. Der Dampfer machte beständig Wasser und lag vorn sehr tief eingetaucht, gelangte aber trotzdem glücklich an die Pier. Das Trockendock war frei und mit Schlepperhilfe wurde er noch in derselben Nacht in die Dockkammer verholt und aufgeblockt.
Auch die anderen Fahrzeuge des Verbandes kehrten zurück - beschädigt, mit Verwundeten und Toten. Das Vorpostenboot von Oberleutnant Rauh hatte entschieden das meiste abbekommen. Es würde eine Weile dauern, bis der Dampfer wieder einsatzfähig war.
Rämisch bewies, daß er auch den Mut eines Löwen besitzen konnte. Kaum lag sein Dampfer im Dock, meldete er sich an Bord zurück. Niemand brauchte ihn herzu schleifen, er kam ganz von selbst. Ein Logger hatte ihn kurz nach dem Ende des Gefechtes mit seinem Schlauchboot aufgefischt. Zuerst machte ihn der Oberbootsmann fertig. Zehn Minuten lang ergoß sich eine Schimpfkanonade über den schlotternden «Hauptsturmhelden». Dann fragte der Oberbootsmann nach dem Verbleib des Schlauchbootes. Kleinlaut mußte Rämisch zugeben, daß man dieses vielseitig verwendbare Fahrzeug auf dem Logger nach altem seemännischem Rechtsbrauch als herrenloses Gut beschlagnahmt hatte und nicht wieder herausgeben wollte. Daraufhin war die zweite Abreibung fällig.
Da Rauh von Bord gegangen war, schickte der Oberbootsmann den Deserteur zum I WO. Adam ließ ihn in seiner Kabine eine Weile stehen, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Schließlich sagte er so ruhig wie immer: «Sie werden morgen früh den Herrn Kommandanten sehen!»
Die Bestrafung des Hauptsturmausreißers war ein Ereignis, dem die ganze Besatzung mit höchster Spannung entgegenfieberte. Alle Maate und Bootsleute waren im Kartenhaus um ihren Kommandanten versammelt, als Rämisch hereingeführt wurde. Der Brückengast hatte schon vorher die Schotten weit geöffnet, damit die auf Deck zusammengedrängten Männer der Vorstellung mit ungeschmälertem Genuß folgen konnten.
Der Alte war in Bestform. Wenn die von Leutnant Adam aufgestellte Skala halbwegs stimmte, hatte Rauh an diesem Morgen alle bislang bekannten Werte überschritten und mindestens ein Dutzend neue Ausdrücke geprägt.
Drei Tage später, am 4. Juni, wurde Rämisch der 24, Schiffsstammabteilung überstellt. Jeder gönnte es ihm, obwohl es ein sehr hartes Urteil war. Die Vierundzwanzigste war die gefürchtete Strafabteilung, die einen Menschen in kürzester Zeit physisch vollkommen vernichtete. Nur selten wurden von den Frontbooten Männer dorthin kommandiert. Zuruckgekommen war noch keiner.
In der Nacht konnte Gerber nicht schlafen. Ob Adams Prognose eintreffen würde? Mit angespannten Sinnen horchte er nach draußen in den böigen Wind, der über das Dock pfif f und an den Aufbauten zerrte. Auf dem Boot aber blieb alles ruhig.
14. Kapitel
Invasion
Nachts um halb zwei Uhr schrillten auf den Kriegsschiffen in Saint-Malo die Alarmglocken. Britische und amerikanische Fallschirmjäger wurden bei Caen und Saint-Lo abgesetzt, eine gigantische Luftflotte begann mit der Bombardierung der vorgelagerten Küstenabschnitte. Die Invasion Frankreichs stand unmittelbar bevor.
Der Kalender zeigte den 6. Juni 1944. Die Kriegsmarine glaubte auf das langerwartete Ereignis gut vorbereitet zu sein. Schon seit Monaten gab es umfangreiche Alarmpläne für Häfen und Einheiten. Alle Schiffe, die am entscheidenden Tag nicht seeklar gemacht werden konnten, sollten große Teile ihrer Besatzungen zur Verstärkung von Infanterie-Einheiten an der flachen Küste abgeben. Die Pläne enthielten Einzelheiten über zweckmäßige Bewaffnung; Aufmarschräume waren bezeichnet, Unterstellungsverhältnisse befohlen, Unterkünfte geregelt.
Die Geschützführer begannen in der Dunkelheit ihre Zweizentimeterkanonen abzumontieren. Aus den Schuppen der Flottille wurden verrostete Landlafetten gebracht. Niemand auf den Vorpostenbooten hatte sie je zu Gesicht bekommen oder kannte ihre Konstruktion.
An diesen Landlafetten fehlte das Wichtigste: die Räder. Sie standen auf zwei
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