Irrfahrt
Plötzlich war in der Luf t ein merkwürdiges Gebrumm, das immer stärker anschwoll. Ein Flugzeug? «Nein, das ist kein Flugzeug», behaupteten die Piloten.
Da wurde am Himmel ein Feuerstreifen sichtbar. Also doch ein Flugzeug! Nur undeutlich war die Maschine im Dämmerlicht auszumachen: ein schlanker, vorn zugespitzter Körper mit kurzen Flügelstummeln, auf dem Heck ein sonderbarer Aufbau, aus dem mit ohrenbetäubendem Lärm ein meterlanger Feuerstrahl herausfuhr.
Gebannt starrten alle nach oben. «Eine Vau eins!» schrien die Wunderwaffengläubigen begeistert im Chor. Auch Gerber konnte sich dem Sog nicht entziehen. Es war schon eine tolle Sache, die geheimnisumwitterte Waffe über Feindesland in Aktion zu sehen.
Sirenen heulten. Nicht auf dem Hauptgebäude der Tribüne, sondern im angrenzenden Stadtbezirk, wo die fliegende Bombe in wenigen Minuten herunterkommen mußte. Die Flak schoß. Ihr Feuer lag sehr gut. Offensichtlich war im südlichen Vorfeld von London eine große Zahl Batterien konzentriert.
Nach.einem Volltreffer brach der Flugkörper in der Luf mit einem gewaltigen Feuerwerk auseinander. Abschuß! Tiefe Enttäuschung malte sich auf den Gesichtern der Gefangenen.
Noch am gleichen Abend löste sich für Gerber das Rätsel des roten Dreiecks. Er war active minesweeper gefahren, wie sein M-Bock hier genannt wurde, und erklärlicherweise bekundeten die Briten für Angehörige der deutschen Kriegsmarine lebhaftes Interesse. Das rote Dreieck bedeutete Verhör, je nach Wichtigkeit durch einen Zivilisten, einen Sergeant oder einen Offizier.
Oberfähnrich Gerber sah sich einem Lieutenant-Commander gegenüber. Der Mann war höchstens dreißig, bestimmt aktiver Offizier, denn er trug eine Menge Orden. «How do you do», sagte er zu Gerber und bot ihm aus seinem Zigarettenetui eine Navy Cut an.
Gerber, der sich auf einen rauhen Empfang eingestellt hatte, wurde ganz verlegen. Genußvoll inhalierte er einige Züge des edlen Krautes, das er zum ersten und letzten Mal beim Arbeitsmann Busch geraucht hatte.
Der Kapitänleutnant blätterte in den Akten. «In welcher Flottille fuhren Sie zuletzt?» Als Gerber die Ziffer sagte, nannte er sofort den FlottiIIenchef sowie die Namen der Kommandanten. Gerber blieb die Luf t weg. Donnerwetter, der Mann kannte ja den ganzen Verein!
«Sie haben doch das Gefecht vor der Insel Jersey mitgemacht?»
«Jawohl, Herr Kapitänleutnant!» antwortete Gerber beflissen. «Gegen einen Kreuzer der Dido-Klasse und fünf Zerstörer der K-Klasse.»
«Soso!» Der Mund des Engländers verzog sich zu einem süffisanten Grinsen.
Seine Fragen wurden jetzt präziser: Welche Verluste hatte die Flottille dabei? Wie lange brauchten die Boote, um wieder einsatzbereit zu sein?
Gerber antwortete stockend und ausweichend. Dem glatten Gesicht des Vernehmungsoffiziers war nicht anzusehen, ob er auch diese Fragen routinemäßig stellte. Keinesfalls wollte Gerber ihm auf den Leim kriechen und militärische Geheimnisse verraten.
«Ein Leutnant von Heyde war doch Ihr NSFO», sagte der Kapitänleutnant nun in etwas schärferem Ton. «Was halten Sie von ihm? Wohl ein ziemlich schwieriger Vorgesetzter?»
In diesem Fall konnte Gerber mit gutem Gewissen Auskunf t geben. Freimütig erzählte er, was er wußte. Der Kapitänleutnant gab sich gelangweilt, hörte aber aufmerksam zu.
Eine Karte des Kanalgebietes war auf dem Tisch ausgebreitet. «Schauen Sie! Die Flottille liegt zusammen mit anderen, minderwertigen Schiffen abgeschnitten auf den Kanalinseln ... » Aha, dachte Gerber, sie haben es also geschafft! «...Leute wie Breitenbach und Heyde lieben keine Untätigkeit. Die haben doch bestimmt erzählt, wie es weitergehen soll ... »
Der Kapitänleutnant machte eine unbestimmte Handbewegung von der Inselgruppe in Richtung Nordsee.
Gerber erinnerte sich genau an das letzte Gespräch mit Heyde. Durch den Kanal wollten sie, in einem Zug nach Wilhelmshaven. Offenbar hatten die Herren in London etwas gemerkt. Große Unternehmungen benötigen eine lange Vorbereitung, die der Luftaufklärung nicht verborgen bleibt. Die Sache war also noch aktuell.
«Ich weiß nichts», sagte Gerber. «Als die Flottille auslief war ich schon im Lazarett.»
Aber der Engländer ließ nicht locker. Immer wieder setzte er den Hebel an. Als Gerber bei seiner Aussage blieb, wurde er zynisch. «Sie haben nicht nur Splitter im Unterschenkel, sondern auch einen im Gehirn!»
«Dazu lag das Feuer der Air Force nicht gut genug,
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