Irrfahrt
aufmerksam seine Umgebung. Außer den Schwerverletzten, die im Bett liegen mußten, gab es auch eine Anzahl von Patienten, die geheilt waren und entlassen werden konnten. Aus Personalmangel behielt Sister Murphy ein halbes Dutzend von ihnen als Arbeitskräfte. Die Männer machten sich nützlich, wo sie konnten. Bestimmt war der Aufenthalt im Lazarett weitaus angenehmer als in einem zugigen Lager aus Zelten oder Wellblechbaracken.
Gerbers Bettreihe wurde von einem neunzehnjährigen Flaksoldaten betreut, der aus Neuss am Rhein stammte. Seine Familie war vor Jahrzehnten aus dem Osten ins Ruhrgebiet eingewandert. Niemand konnte seinen komplizierten Nachnamen richtig aussprechen oder behalten, ebensowenig seinen Vornamen. Deshalb nannten ihn alle der Einfachheit halber «Junge» oder sprachen von ihm als dem «Jungen aus Neuss».
Seine Hauptaufgabe war es, die Mahlzeiten ans Bett zu bringen. Die Verpflegung war längst nicht so üppig wie im Lazarett der US-Army, aber reichlich und gut. Viel gebratenes Fleisch, dazu meist Röstkartoffeln. Nur mit dem Gemüse verstanden die Briten nicht umzugehen; es wurde in Salzwasser gekocht und ohne weitere Zubereitung serviert.
Eine Spezialität der Kriegszeit war dehydrated food. Um Transportraum zu sparen, wurden Eier, Milch und andere leicht verderbliche Nahrungsmittel im Herstellerland getrocknet, pulverisiert und verpackt. Das Rührei aus Pulver schmeckte zwar wie Rührei, sah aber mit seiner blaßgelben Farbe wenig verlockend aus.
«Versuch doch mal eine Zeitung für mich zu erwischen», sagte Gerber eines Tages zu dem Jungen aus Neuss. Wenig später hielt er zum erstenmal in seinem Leben eine englische Zeitung in den Händen. Die Männer in den Nachbarbetten reckten ihre Hälse und verfolgten teils gespannt, teils schadenfroh, wie Gerber sich abquälte. Mit den Schlagzeilen kam er überhaupt nicht zurecht, das war eine Wissenschaf t für sich. Auch bei den Nachrichten und Kommentaren merkte er, wie viele Vokabeln ihm fehlten. Nur mit großer Mühe verstand er ungefähr den Sinn. Sein Blick fiel auf eine Karikatur: Auf allen vieren kriecht der deutsche Michel vorwärts. Goebbels läßt eine Wunderwaffe vor seinem Gesicht baumeln, zu der Michel gläubig aufblickt. Hinter Goebbels sitzt protzig der dicke Göring, mit Orden behängt, dahinter schlaf f und ganz unbeteiligt HitIer. Als letzter in der Reihe Himmler, der mit einer Peitsche auf Michels Hinterteil schlägt.
Unwillkürlich mußte Gerber grinsen. Die Zeichnung war erstaunlich treffend. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Hastig blätterte er die Seite um.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten ging es bald besser mit der Lektüre. Manche Begriffe ergaben sich bei einigem Nachdenken aus dem Text, bei anderen half ihm der Dolmetscher der Station, ein Philologiedozent aus Berlin, der als einziger ein Wörterbuch besitzen durfte.
Gerber orientierte sich zunächst über die Kriegslage an der Westfront. Seit Wochen schon waren die Gefangenen von allen Quellen der Information abgeschnitten.
Das Ergebnis war niederschmetternd. In Belgien saßen jetzt die Briten, in Südfrankreich waren die Amerikaner gelandet, hielten die wichtigsten Häfen und Küstenabschnitte besetzt und marschierten in Richtung Norden. Aus der Normandie waren gewaltige Panzerkeile in verschiedene Richtungen vorgedrungen, hatten Mitte September die Hauptstadt Paris eingenommen und standen kurz vor der Grenze des Reiches, am ehemaligen Westwall, den die britische Presse «Siegfriedlinie» nannte.
Gerbers Interesse für Zeitungen blieb dem englischen Personal nicht verborgen. Unaufgefordert wurden ihm ganze Stapel aufs Bett gelegt. Papier schien hier nicht knapp zu sein. Die Briten waren eine Nation von Zeitungslesern.
Der Sergeant war konservativ und las seinen Daily Express. Dieses Blatt wurde von dem ultrakonservativen Lord Beaverbrook inspiriert. Sister Murphy war liberal und abonnierte den Daily Telegraph. Die Orderlies standen der Labour Party nahe und hielten sich gemeinschaftlich den Daily Herald und einen Daily Mirror, ein Sensationsblättchen mit Fotos von hübschen Mädchen, die ihre Reize freigebig zur Schau stellten.
Im Nachrichtenteil stimmten die Blätter weitgehend überein, aber die Kommentare dazu waren unterschiedlich und - völlig ungewohnt für Gerber - sehr freimütig. Maßnahmen der Regierung wurden gerügt, Fehler der militärischen Führung, mangelhafte Konstruktion von Kriegsgeräten, Lücken in der
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