Irrfahrt
erfuhr Gerber zu seiner Überraschung, daß alles Lüge war. «Die Arbeitsfront ist das größte Schwindelunternehmen aller Zeiten», sagte einer der Landser, «Dreiunddreißig haben die Nazis alle Gewerkschaften verboten, sich ihr rechtmäßiges Eigentum unter den Nagel gerissen und sich mit den Unternehmern arrangiert. Den Arbeitern wurde jegliches Mitspracherecht genommen. Dieser Trunkenbold Ley ist der erste, der an den Galgen gehört!»
Die vier Männer nahmen kein Blatt vor den Mund. Sie überlegten, wie man nach dem Kriege die Gewerkschaften wieder aufbauen sollte, erörterten Fachspartensystem und Betriebssystem.
Gerber konnte der Debatte nicht mehr folgen. Für ihn war das eine fremde Welt. Er wußte auch nicht, wozu Gewerkschaften überhaupt nötig waren. Trotzdem lieferte ihm die Unterhaltung mancherlei Stof f zum Nachdenken. Erst nach Tagen begrif f er, daß hier ganz selbstverständlich über eine Entwicklung Deutschlands gesprochen worden war, die den verlorenen Krieg voraussetzte. Ein Deutschland ohne die Arbeitsfront und ohne die Nazis.
An diesen Punkt gelangt, erschrak er. Das war ja Hochverrat!
Urplötzlich tauchte eine Kolonne Lastwagen am Lagertor auf. Die Verwundeten sollten weiterbefördert werden. Schon zweimal hatte Gerber Pech gehabt; bei dem allgemeinen Run auf die Fahrzeuge war er mit seinem Krückstock ins Hintertreffen geraten. Aber diesmal klappte es.
Zwei Lager kannte er nun schon. Von dem nächsten erwartete er keine Überraschungen. Doch es kam anders. Die Kolonne hielt nach mehrstündiger Fahrt nicht vor einem Lagertor, sondern an der Küste. In geringer Entfernung lag der Kunsthafen Mulberry. Ein Wunderwerk der Technik! Baufachleute, unter ihnen ein Marineingenieur, stellten Mutmaßungen über die Konstruktion an. Offenbar hatte man die einzelnen Teile im Schlepp über den Kanal gebracht, an Ort und Stelle versenkt und somit das Grundgerüst für die schwimmenden Hafenanlagen geschaffen. Mehrere Schiffe lagen an der Pier, und riesige Kräne waren bei der Arbeit. Nicht einmal die Befeuerung des Hafens fehlte. Eine dichte Ballonsperre schützte ihn vor Überraschungen aus der Luft. Das emsige Treiben im künstlichen Hafen war eindrucksvoll. Ununterbrochen kamen Fahrzeuge. Ganze Kolonnen rollten aus dem Bauch der Landungsschiffe; sie klappten am Strand bei Ebbe einfach ihren Bug herunter und gaben die Ausfahrt frei. Eine Panzerkolonne wurde gerade entladen und hüllte die Gefangenen, die man in bewährter Manier herumstehen ließ, in eine Staubwolke.
Den Verkehr regelten Militärpolizisten. Schon von weitem waren sie an der weißen Farbe ihres Helmes erkennbar. Sie brüllten mit heiserer Stimme und zeigten brutale Manieren. Das waren also die «Greifer», vor denen die US-Soldaten einen höllischen Respekt hatten.
Äußerlich sahen sich alle MP's ähnlich. Offenbar wurden sie nach körperlichen Merkmalen ausgewählt, denn kaum einer war kleiner als ein Meter fünfundachtzig. Bei einem Boxkampf hätten sie ausschließlich die Schwergewichtsklasse besetzen können. Manche dieser Muskelprotze erinnerten Gerber an den Obervormann Rutsche aus Eckdorf. Vor derartigen Typen war er auf der Hut. Als die Gefangenen in Marschkolonne zu drei Gliedern antreten mußten, begab er sich in die Mitte. Wenn es Kolbenstöße und Püffe von den Bullen setzte, wer bekam sie? Natürlich die Männer am Rande. Instinktiv hatte Gerber die richtige Position bezogen. Das verdankte er einzig und allein der Schulung durch Rutsche.
Mit Gepäck brauchte sich niemand abzuschleppen. Taschentuch und Löffel, dazu der Krückstock - das war alles, was Gerber noch besaß. Wie sagten die Lateiner?
Omnia mea mecum porto - meine gesamte Habe trage ich bei mir. Dieses Zitat hatte Helmut einst in sein Büchlein geschrieben.
«Come on!" brüllten die Militärpolizisten. Ein Landungsschif f war leer geworden, und mehrere Kolonnen Gefangener wurden genau wie eine Viehherde in den Bauch des großen Schiffes getrieben. Der Fahrstuhl vom Oberdeck brachte einige Latrinenkübel in den Laderaum; darin erschöpfte sich die ganze Fürsorge.
Fliegeralarm! Sofort begann ein wildes Geballer. Die Landungsboote waren gut bewaffnet. Gerber hatte beim Einsteigen mehrere Vierlingslafetten gesehen. Auch größere Kaliber, wahrscheinlich Dreizöller, befanden sich an Bord. Das Landungsschif f schoß anfangs einen exakten Salventakt, doch bald ging das Schießen in eine planlose Knallerei über. Durch die Luke zum Oberdeck waren drei
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