Irrfahrt
Parkgelände waren für Kriegsgefangene eingerichtet. Ansonsten lagen im Lazarett britische Verwundete von allen Kriegsschauplätzen der WeIt: Geleitzugfahrer aus dem Atlantik, Infanteristen, die in Mittelitalien gekämpf t hatten, von Malaria und Gelbfieber geplagte Soldaten der 14. Armee aus Burma, Panzerfahrer aus Nordfrankreich mit verkohlten Gliedmaßen.
An der Spitze des Emergency-Hospitals stand ein bärbeißiger Oberst, Colonel Blimp genannt. Trotz des kriegsbedingten Personalmangels klappte der Betrieb ausgezeichnet.
Die Station, auf der Gerber lag, wurde von Sister Murphy geleitet. Sie besaß weitreichende VolImachten, die sie gegenüber Personal und Patienten, ja sogar gegenüber den Ärzten energisch durchsetzte. Immerhin brachte die Sonderstellung der Stationsschwestern einen großen Vorteil: Die Ärzte wurden dadurch entlastet, viele Nebenaufgaben wurden ihnen abgenommen. Nur auf diese Weise konnte ein Lazarett mit tausend Patienten von einem Dutzend Ärzten betreut werden.
Gerbers Bein hatte sich verschlechtert. Der Verband, noch keine vierundzwanzig Stunden alt, war schon wieder durchnäßt, und jeder Schritt verursachte stechende Schmerzen. Trotz der sommerlichen Wärme fröstelte er. Offenbar war es das Fieber.
Sister Murphy musterte ihn aufmerksam und sagte dann: «We take you to the theatre.» Gerber wunderte sich. Wieso Theater, noch dazu am Vormittag? Das Mißverständnis klärte sich auf. «Theatre» war im Lazarett die Bezeichnung für Operationssaal. Ein Chirurg, etwa fünfzig Jahre, mit schütterem Haar und großen dunklen Augen machte sich gleich an die Arbeit. In fließendem Deutsch begann er Gerber nach seiner Krankengeschichte auszufragen. Die Anweisungen, die er der Operationsschwester gab, klangen irgendwie merkwürdig. Sein Englisch war nicht akzentfrei und erinnerte ein wenig an Schulenglisch.
Der Eingrif f erfolgte unter örtlicher Betäubung. «Na also, einen haben wir schon», sagte der Arzt und überreichte seinem Patienten einen winzigen Granatsplitter. «Jetzt kommt der nächste ... »
Die Unterhaltung lief unterdessen weiter. Heimatort und Krieg, Schulzeit und Ausbildung, alles kam zur Sprache. Gerber war erstaunt, daß ein britischer Militärarzt einem deutschen Gefangenen so aufgeschlossen gegenübertrat.
Nach dem dritten Splitter wagte er endlich die Frage, die ihm auf der Zunge lag: «Woher sprechen Sie eigentlich so gut deutsch, Herr Doktor?»
«Ich stamme aus Deutschland», sagte der Arzt. «In Bonn habe ich studiert, später war ich Stationsarzt im Krankenhaus. 1934 mußte ich emigrieren. Ich bin Jude ... Nun halten Sie mal Ihr Bein still, junger Mann!»
Gerber hatte unwillkürlich gezuckt. Der nationalpolitische Unterricht bei Dr. Gall fiel ihm ein: Die Juden haben krumme Nasen, flache Stirnen, dunkle Haut. Die Juden sind feige, geizig, betrügerisch und verlogen. Eine Skala von Schimpfworten mußten die Schüler auswendig lernen, um über die Juden Bescheid zu wissen.
Dieser sympathische Herr, der geschickt mit dem Skalpell hantierte, war also Jude - einer jener Menschen, die von den Nationalsozialisten zutiefst verachtet wurden. «Nein, das hätte ich nicht gedacht», sagte Gerber aufrichtig.
Dr. Turgel lächelte bitter.
In einer knappen halben Stunde waren vier Splitter aus Gerbers Bein entfernt. «Jetzt wird Ihre Wade besser heilen!»
Gerber bedankte sich. Seine vier Souvenirs legte er in den Nachttischkasten.
Allmählich kam Gerber innerlich zur Ruhe. Es hatte ja auch keinen Zweck, sich mit Grübeleien verrückt zu machen. Der Front mit ihren tausendfältigen Gefahren für Leib und Leben war er hier weit entrückt. Er lag in einem sauberen Bett, die Briten behandelten ihn nicht gerade freundlich, aber korrekt. Eigentlich konnte er dem Zufall dankbar sein, daß ihn die Amerikaner nicht über den großen Teich gebracht hatten. England war der Heimat näher, vielleicht würde er nach dem Krieg dann früher nach Hause kommen.
Manchmal ging ihm das Verhör durch den Kopf. Hätte er damals Heydes Vorschlag angenommen, würde er jetzt beim Haufen und frei sein. Aber wäre das wirklich Freiheit, unter dem verhaßten Vorgesetzten? Hier im Lazarett fühlte er sich gar nicht wie ein Gefangener. Der langgestreckte hohe Raum mit den beiden Bettenreihen glich dem Lazarett in St-Servan. Leider war keine der englischen Schwestern auch nur annähernd so hübsch wie die zierliche, schwarzlockige Jeannine.
Da Gerber weiter nichts zu tun hatte, beobachtete er
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