Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
Vom Netzwerk:
hatte, sonst wäre alles anders gekommen!» Natürlich war dieser Jüngling von der Luftwaffe. Jeder schwor auf seine Waffengattung. Mist gebaut hatten immer nur die anderen; sie allein waren schuld. Und so drehte man sich im Kreise, ohne es zu merken. Alle wußten, wie der Krieg zu gewinnen war. Ganz genau sogar ...
    Unterdessen waren die Maschinen zum Stillstand gekommen. Gerber merkte an den schwächer werdenden Schlingerbewegungen, daß sie bereits im Hafen lagen. Bald senkte sich das riesige Tor des großen Schiffes, und Helligkeit flutete in den Laderaum.
    Ein Passagierhafen, unverkennbar die Anlagen zur Personenabfertigung. Southampton, 27. August 1944. «Ehrengeleit» stand an der Pier, um die Eroberer an Land zu führen. Es waren keine Amerikaner, sondern Briten. Sie trugen andere Uniformen und Rangabzeichen, hatten gute Manieren. Strammer und militärischer, nicht so schlaksig wie die Amerikaner. Erst viel später wurde klar, daß der Tommy seinem lieben Verbündeten einige hunderttausend Gefangene einfach geklaut hatte, weil er auf seiner Insel billige Arbeitskräfte brauchte.
    Eingekeilt in den wogenden Menschenstrom humpelte Gerber an Land. So wurde die Invasion, die im Sommer 1940 stattfinden sollte, nach vier Jahren doch noch Wirklichkeit. Allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen: Eine riesige Armee von deutschen Kriegsgefangenen ergoß sich über Großbritannien.

 
    18. Kapitel
    In England
    Der plötzliche Wechsel löste bei den Kriegsgefangenen Verwirrung aus. Auch Gerber war ziemlich durcheinander. An die saloppe Art der Amerikaner hatte er sich schon gewöhnt, er war glimpflich davongekommen und hegte keinerlei Haßgefühle. Bei den Briten lagen die Dinge anders. Jahrelang hatte man ihm eingetrichtert, sie seien schuld am Krieg, weil sie einem aufstrebenden Deutschland nicht das Schwarze unter dem Fingernagel gönnten. Die Briten waren der Hauptfeind zur See und im Kolonialbereich, ein Volk von Geschäftemachern hinterlistig und ohne Skrupel. Von ihnen war bestimmt das Schlimmste zu erwarten.
    Schon der Transport paßte nicht in dieses Bild. Gerber hatte fest damit gerechnet, daß man sie in Güterwagen verfrachten würde, wie das in Deutschland üblich war. Statt dessen stand ein ganz normaler, bequem eingerichteter Schnellzug der London & North-Eastern Railways bereit. Gerber erwischte sogar einen Platz in der Ersten Klasse, deren Sitze mit Leder gepolstert waren. Klar, die Briten wollen uns ihren Reichtum demonstrieren, dachte er mißtrauisch.
    Der Zug brauste durch die Vororte Londons. Die Männer drängten sich an den Fenstern und hielten Ausschau nach den verheerenden Folgen der V 1. «Ganz Südengland liegt unter dem pausenlosen, schwersten Einsatz unserer V-Waffen», hatte der großdeutsche Rundfunk wochenlang verkündet.
    Demzufolge glaubten alle, hier eine wüste Mondlandschaf t vorzufinden, die kaum noch Spuren einer menschlichen Besiedlung aufwies. Zu ihrer maßlosen Verblüffung erblickten sie nette, bemerkenswert saubere Villenviertel mit sorgfältig asphaltierten Straßen. Nur wenige Trümmer zeugten vom Bombenkrieg. Hohe Unkräuter auf dem Ruinenschutt ließen erkennen, daß diese Schäden bereits vor Jahren entstanden waren, wahrscheinlich bei den Angriffen 1940.
    Endstation war ein Vorstadtbahnhof namens Cempton Park. Unter strenger Bewachung von Home Guards, meist älteren und nicht mehr fronttauglichen Männern, marschierten die Gefangenen zu einem großen Gebäudekomplex. Pferdeställe und Kassenschalter, Totalisator, hohe Tribünen, hellblau die Ehrenloge des königlichen Hofes. Eine Rennbahn. Pferderennen war der Nationalsport der Engländer.
    Ein junger Offizier hielt in gutem Deutsch eine Ansprache. «Wenn Sie die Formalitäten hinter sich haben», sagte er näselnd, «werden Sie mit Sonderzügen in verschiedene neu eingerichtete Lager unseres Landes gebracht.»
    Gerber merkte bald, daß die Briten vorzügliche Organisatoren waren. Fast ohne Wartezeit durchlief er sämtliche Stationen des Aufnahmelagers. Bei der Royal Army herrschte Disziplin. Es wurde zackig gemeldet, stramm gegrüßt, laut gebrüllt.
    Gerbers Laufzettel enthielt nun schon etliche Stempel. Einer davon bedeutete seine Einweisung ins Lazarett. Der Militärarzt hatte bei der Untersuchung mehrere Eiterherde am Bein und leichtes Fieber festgestellt. Was sich hinter dem roten Dreieckstempel verbarg, wußte Gerber nicht.
    Abenddämmerung. Der Haufen Gefangener sammelte sich unter dem Dach der großen Tribüne.

Weitere Kostenlose Bücher