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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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werden - mit Kriegsgeschichten, mit Erinnerungen an Heimat, Beruf und die Jahre vor dem Krieg. Dabei wurde aufgeschnitten, daß sich die Wellblechwände der Hütte bogen. Mit seinem erlernten Beruf war kaum einer zufrieden. Große, meist phantastische Pläne wurden gewälzt. Eine bestimmte Tendenz war nicht zu übersehen: Alle wollten Handel treiben, spekulieren; arbeiten wollte niemand.
    Beruf? In stillen Stunden mußte Gerber erkennen, daß er eigentlich nichts gelernt hatte. Die Schulbildung, ein bißchen Seemannschaft, und selbst das war schon halb vergessen. Bei der Aufnahme im Lager hatte er «Abiturient» angegeben. Das ist kein Beruf, hieß es. Unskilled labourer, ungelernter Arbeiter, stand auf seiner Karteikarte.
    Hauptthema der endlosen Gespräche waren Frauen. In dieser frauenlosen Umgebung wurden immer wieder neue, meist brutale und ganz unglaubwürdige Geschichten erzählt. «Ich sammle Wirtinnenverse» , sagte ein Berliner eifrig. Durch Umfragen auf den einzelnen Hütten trug er mehr als dreihundert Verse zusammen, die er auswendig lernte. Erstaunlich, was Frau Wirtin so alles hatte ...
    Das Compound wurde von einem Lagerführer geleitet, dem zwei Gehilfen und ein Dolmetscher beigegeben waren. Ihm unterstanden die Barackenältesten, meist altgediente Feldwebel. Über dem Ganzen thronte Oberlagerführer Meyer, der Einfachheit halber «Obermeyer» genannt. Er war ehemaliger Stabsfeldwebel, was an Tonart und Auftreten leicht zu merken war. Meyer gab die Befehle des britischen Lagerkommandanten weiter und beaufsichtigte die Lagerführer.
    Gerbers Compound leitete ein früherer Schaubudenboxer namens Müller. Blumenkohlohren und breitgequetschte Nase zeugten von einer langen sportlichen Laufbahn. Müller war sogar einmal Wehrmachtmeister im Schwergewicht gewesen. Diese Empfehlung genügte, und er war für einen hohen Posten in der Lagerverwaltung qualifiziert.
    Der Lagerführer bewohnte mit seinen Gehilfen eine ganze Baracke. Dort standen richtige Möbel, und vor den Fenstern hingen Gardinen. Gelegentlich erhielten die Mitglieder der Lagerleitung auch eine Zuteilung von Schuhen oder Textilien; sie rangierten in jeder Beziehung eine Stufe höher als die Masse der Gefangenen, die stumpfsinnig und tatenlos auf ihren Baracken hockten. Über diese Vorzugsstellung empörte sich Gerber. Für ihn waren Meyer und Müller miese Typen. Ulbert versuchte ihn zu bremsen: «Mir sind diese Leute auch nicht sympathisch, aber unsere Lagerleitung ist der bescheidene Anfang einer Selbstverwaltung. Vielleicht werden im nächsten Jahr die Barackenältesten schon gewählt, und ein Jahr später die Lagerführung.»
    Gerber war entsetzt, daß Ulbert mit mehreren Jahren Gefangenschaft rechnete. «Das halte ich nicht aus», stöhnte er.
    «Beim Barras haben wir noch viel mehr ausgehalten», erwiderte Ulbert ruhig. «Hier können wir wenigstens nicht absaufen.»
    Auch ein Trost, dachte Gerber resigniert.
    Immerhin, mit diesem minimalen Aufwand an Verwaltung herrschte Ordnung im Lager. Die deutsche Lagerleitung brachte den Briten mancherlei Mißstände zur Kenntnis, die schnell abgestellt werden konnten.
    Alle Befehle der Lagerleitung mußten strikt befolgt werden. Wer sich widersetzen wollte, wurde auf einem Blockzettel beim britischen Kommandanten gemeldet, am nächsten Tag vorgeführt und eingesperrt. Die Briten taten alles, um die Autorität der Lagerführer zu stärken. «Anders kann man ein Lager mit zwölftausend Mann eben nicht verwalten», meinte Rolf Ulbert.
    «Schon möglich», sagte Gerber. «Aber wenn es wirklich einmal Wahlen gibt, stimme ich auf gar keinen Fall für den Preisboxer Müller.»
    «Ich auch nicht», sagte Ulbert.
     
    Am vierten Tag wurde Gerber auf die Schreibstube des britischen Lageroffiziers gerufen. Dort erwartete ihn ein alter Bekannter: Obergefreiter Seidel, das Allerweltsgenie von der Vorpostenflottille. «Nu setz dich erscht emal, mei Alder! Hast ooch schon besser ausgesähn!» Sein breites Sächsisch erzeugte gleich eine gemütliche Atmosphäre.
    Seidel war erst seit einigen Wochen in diesem Lager, und schon hatte er einen bequemen Posten ergattert. Er führte die Kartei der Lagerinsassen, fein geordnet nach Blöcken. Entdeckte er jemand von seinem früheren Haufen, ließ er ihn einfach zur «Berichtigung der Unterlagen» heranholen. Das fiel nicht auf, weil täglich Dutzende von Männern zu diesem Zweck vorgeführt werden mußten. Gerber vermutete, daß der wendige Sachse nebenbei kleine Aufträge

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