Irrfahrt
für seine britischen Vorgesetzten erledigte. Männer wie Seidel waren hier genauso brauchbar wie in Saint-Malo.
Seidel hatte sich lange vor der Kapitulation Saint-Malos nach den KanaIinseln in Sicherheit gebracht, wo die abgeschnittenen Verbände noch monatelang ausharrten. Gerber erfuhr eine Menge Neuigkeiten: Breitenbach war tatsächlich nach Wilhelmshaven geflogen, um die rechtzeitige Aufnahme des Verbandes vor der Nordseeküste zu sichern. Sein Flugzeug wurde jedoch abgeschossen, alle Insassen kamen ums Leben. Damit fehlte dem Unternehmen, wie Seidel es ausdrückte, die Seele vom Buttergeschäft. Der Plan des großen Durchbruchs wurde nicht weiterverfolgt.
Um sich noch ein paar Orden zu verdienen, veranstalteten die Boote der 24. Minensuchflottille unter Breitenbachs Nachfolger Anfang März 1945 ein Stoßtruppunternehmen gegen die Hafenstadt Granville. «Da hab'ch aber nich mitgemacht, das war nadürlich großer Gäse.» Bei dem sinnlosen Vorstoß kam es zu einer wilden Schießerei mit amerikanischen Etappeneinheiten. Unter den Toten war auch Leutnant von Heyde.
Die Rationen auf den Kanalinseln wurden immer knapper. Mit Schnecken und Regenwürmern streckten die Männer ihre kümmerliche Verpflegung.
Drei Tage nach Kriegsende kapitulierten die Inseln. Angeblich hatten die Briten zugesagt, die Kapitulanten binnen sechs Wochen in die Heimat zu bringen und zu entlassen. Sie waren auch keine Kriegsgefangenen, sondern «Internierte» mit größeren Rechten als die normalen POW's. Allerdings erwies sich bald, daß von einer Sonderstellung der Insulaner keine Rede war.
Das Wahlergebnis schlug wie eine Sechstonnenbombe ein. Niederlage der Konservativen, überwältigende Mehrheit für Labour. Schmunzelnd las Gerber in der Zeitung am Schwarzen Brett, daß Jordys Abgeordneter aus Newcastle erneut in das Unterhaus einziehen durfte.
Gerber dachte of t an Jordy. Im Lager war der Betrieb wesentlich strenger als im Lazarett. Gespräche mit Briten gab es kaum, und Jordy fehlte ihm sehr.
Winston Churchill mußte abtreten, Attlee wurde Premierminister. Zu den zahlreichen Mitgliedern seines Kabinetts ernannte er noch einen Minister für Deutschland, so wie es einen Indienminister und einen Kolonialminister gab.
Vorerst wurde die Deutschlandpolitik vom Regierungschef betrieben. Gleich nach der Kabinettsbildung flog Mr. Attlee wieder nach Potsdam. Die Beratungen der großen drei waren wegen des Regierungswechsels in London unterbrochen worden, und Stalin und Truman warteten schon ungeduldig auf den Abschluß der Konferenz.
Am Schwarzen Brett war der Wortlaut des Potsdamer Abkommens ausgehängt. Anfangs drängten sich die Männer in dichten Trauben, dann ließ das Interesse merklich nach. Ulbert und Gerber gehörten zu den wenigen, die den inhaltschweren Text Zeile für Zeile lasen.
Deutschlanp war zusammengeschrumpft, ein aufgeteiltes, von fremden Truppen besetztes Land. Im Osten kamen umfangreiche Gebiete unter polnische Verwaltung. Alle Deutschen in Polen, Ungarn und dem Sudetenland sollten ausgesiedelt werden.
Vollständige Abrüstung und Entmilitarisierung. Das war ein Schlag für alle Berufssoldaten, die im stillen auf eine Art Hunderttausend-Mann-Heer gehof t hatten. Gerber empfand grimmige Schadenfreude, wenn er sich die langen Gesichter von Major Kämpfe und dem Generalstäbler vorstellte. Diese Herren müssen sich nach einem neuen Beruf umsehen. Das wird ihnen aber schwerfallen!
Die NSDAP war aufgelöst, ebenso ihre Gliederungen, das gesamte Vermögen der braunen Organisationen beschlagnahmt. Die Kriegsverbrecher sollten bestraf t werden. Zu diesem Zweck wurde ein alliiertes Militärtribunal gegründet.
Weiterhin war im Text von Reparationen die Rede, von Demontagen großer Industriebetriebe, von Beschränkung und Überwachung der Produktion strategisch wichtiger Erzeugnisse und dem Verbot ganzer Industriezweige, die Hitler aus Gründen der Autarkie aufgebaut hatte. Der Lebensstandard in Deutschland sollte nicht über dem Durchschnitt der anderen europäischen Länder liegen.
«Armes Deutschland! Noch schlimmer als das Diktat von Versailles!» Diese Worte hörte man of t im Lager. Die Männer waren bedrückt, verzweifelt, empört. In dem Abkommen stand nichts über das Schicksal der Kriegsgefangenen.
Auch Gerber war von einer tiefen Depression erfaßt. Was soll nun werden? Seine Heimatstadt lag an der neuen polnischen Grenze. Vielleicht lebten seine Eltern nicht mehr, oder sie waren mit einem
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