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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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geführt hat, kann doch nicht über Nacht abgesetzt werden!
    Sonderbare Ortsnamen tauchten auf, die sich weder aussprechen noch behalten ließen. Fünf- bis achtsilbige Wörter mit einer merkwürdigen Häufung von Konsonanten. Der Zug fuhr durch Wales, in dem einstmals die Kelten gesiedelt hatten.
    Mehrfach wurde der scharf bewachte Wagen anderen Zügen angekoppelt. Schließlich endete die lange Fahrt in einer Kleinstadt mit niedrigen, verräucherten Häusern. Grau war das Tal, durch das die Kolonne der Kriegsgefangenen marschierte. Grau sahen die Häuser der Ortschaften aus, grauer Qualm stieg aus zahllosen Schornsteinen, grau war der Straßenbelag, das Laub der Bäume, das Gras auf den Wiesen: eine trostlose Industrielandschaft.
    Bergbau auf Kohle und Eisenerz bestimmte den Charakter des Tales. Männer aus dem Ruhrgebiet machten abfällige Bemerkungen. So kleine Klitschen, so winzige Hochöfen gab es in ihrer Heimat schon seit der Jahrhundertwende nicht mehr. In Wales waren die Betriebe rückständig, offenbar eine Folge der starken Zersplitterung. Die Verstaatlichung, auf den Wahlplakaten der Labour Party unmißverständlich gefordert, sollte hier Wandel schaffen.
     
    Das Lager war genauso trostlos wie die Landschaft. In langen Reihen, schnurgerade ausgerichtet, standen Hunderte von primitiven Baracken. Sockel aus Ziegelsteinen trugen eine Art liegende Wellblechtonne, deren Schmalseiten mit einer Tür und zwei kleinen Fenstern versehen waren. Nach ihrem Erfinder hießen die elenden Blechkästen «Nissen-Hütten». Der Name erinnerte an winzige Tierchen, die sich am Körper des Menschen massenhaf vermehren. Aber Läuse gab es hier nicht. Die Unterkünfte waren leicht sauberzuhalten und zu desinfizieren.
    Jede Hütte beherbergte achtundzwanzig Mann. Die Innenausstattung war denkbar einfach: zweistöckige hölzerne Bettgestelle mit dünnem Strohsack und grober Wolldecke, vier Bänke, zwei roh gezimmerte Tische und ein Kanonenofen. Ihre Habseligkeiten mußten die Bewohner in einem kleinen Seesack verstauen.
    Gerbers Hoffnung, mit seinen Bekannten aus Wakefield zusammenzubleiben, erfüllte sich nicht. Das Lager war annähernd voll belegt, nur einzelne Plätze auf den Baracken waren noch frei. Die Neuankömmlinge wurden über das riesige Gelände verstreut und sahen sich nie wieder.
    Gerber fühlte sich sehr unglücklich. Nun war er endgültig eingesperrt. Je vierzig Hütten, dazu eine Küchen-, Sanitäts- und Verwaltungsbaracke, bildeten ein Compound, einen Block. Er war durch doppelte Stacheldrahtzäune von der Außenwelt und von den benachbarten Compounds abgeschnitten. Posten mit Wachhunden patrouillierten zwischen dem äußeren und inneren Zaun; an den Ecken des Lagers standen hohe Wachtürme. Die gesamte Umzäunung, auch zwischen den Compounds, war nachts von Tiefstrahlern hell erleuchtet.
    Ausgestreckt lag Gerber auf seiner harten Koje. «Hier stecken sie uns bestimmt alle ins Bergwerk», sagte jemand. «Da verdient man gut», behauptete ein Bergmann aus dem Saarland. «Ich glaube nicht, daß man uns dafür bezahlen wird», erwiderte Rolf Ulbert, Gerbers «Untermann».
    Ulbert war der älteste von ihnen, mindestens fünfunddreißig, unauffällig und mittelgroß, ein behäbiger Typ mit gemessenen Bewegungen. Er sprach immer ruhig und überlegt. Auf der Baracke genoß er großes Ansehen, vor allem wegen seines sicheren Urteils über Menschen.
    Ulbert hatte sich als Matrose vorgestellt. Mit fünfunddreißig Jahren Matrose? Gerber war ehrlich verwundert. Er kannte den Umgangston im Logis zu gut, als daß er diesen «Matrosen» für echt halten konnte. Aber er mochte nicht fragen. Irgendwann würde sich das Geheimnis um Ulbert schon aufklären.
    Viel stärker beschäftigte Gerber die Frage, was die Briten mit ihnen vorhatten. Die Vorstellung, in einem Bergwerk schuften zu müssen, jagte ihm kalte Schauder über den Rücken. Auf seinen Krückstock gestützt, humpeIte er durchs Compound. Er gab sich Mühe, einen möglichst hinfälligen Eindruck zu machen. Ulbert beobachtete ihn dabei und lächelte.
    Gerber hätte sich die Mühe sparen können. Die Gefangenen blieben hinter Stacheldraht. Nichts war so reichlich vorhanden wie Zeit. Aufstehen, Bettenbau, Waschen, Zählappelle und Mahlzeiten, das nahm nur einen kleinen Teil des Tages in Anspruch. Wer zum Ausfegen der Baracke eingeteilt oder zum Kartoffelschälen in die Küche abkommandiert wurde, konnte sich glücklich schätzen.
    Die Zeit mußte irgendwie herumgebracht

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