Irrfahrt
Flüchtlingstreck weggekommen...
Ulbert versuchte ihn zu trösten. «Die Nazis haben uns ins Unglück geführt, das müssen wir nun ausbaden. Die ersten Jahre werden hart sein, aber es heißt ja, daß man uns die Möglichkeit geben will, Deutschland auf einer demokratischen Grundlage neu aufzubauen. Manche Bestimmung, die jetzt Gültigkeit hat, wird in fünf oder zehn Jahren fallen. Wir kommen wieder auf die Beine, verlaß dich drauf!»
Gerber konnte zwar Ulberts Optimismus nicht teilen, aber er war froh, einen Menschen gefunden zu haben, der ihm Halt gab.
Mit der Frage: Wie geht es weiter in Deutschland? beschäftigten sich die Gefangenen auf unterschiedliche Weise. Zwei ältere Männer hielten Vorträge. Der erste ging von der Perspektive aus, daß die Zahl der Arbeitsplätze in der deutschen Industrie durch Demontagen und Produktionsbeschränkungen erheblich schrumpfen werde. Also gäbe es nur eine Lösung: Zurück aufs Land!
«Das ist ganz einfach», verkündete der Sprecher. «Aus einem Stück Land von etwa fünfzig Hektar schaffen wir zunächst einmal zwanzig Kleinbetriebe von anderthalb Hektar. Auf diesen Höfen lebt je eine Familie unter weitgehender Selbstversorgung und mit geringer Marktproduktion. Das restliche Gelände wird in zwei größere Betriebe von je zehn Hektar aufgeteilt, die Pferdegespanne halten und für die Kleinbetriebe alle Pflugarbeiten gegen Entgelt mit erledigen. Man braucht also nur die verfügbare Ackerfläche Deutschlands in Stücke von etwa fünfzig Hektar aufzuteilen und zweiundzwanzig Familien darauf anzusiedeln. Auch für die Flüchtlinge ist dann noch genügend Raum.»
Der zweite Redner war Baufachmann. «Wohnungsbau in großem Stil wie in der Vergangenheit, etwa Häuser mit vier oder fünf Geschossen, ist nicht mehr möglich. Woher soll in unserem bettelarmen Land soviel Geld kommen? Also, zurück zur Bauweise unserer Urgroßväter. Aus Bimsbeton und Lehm können sich ausgebombte Familien und Flüchtlinge selbst ein Heim schaffen. Für wenig Geld, in Eigenleistung, mit primitiven Mitteln.»
Nach diesen beiden Vorträgen bildeten sich nicht wenige Insassen des Lagers ihre Vorstellung von der Zukunft. Sie waren sich einig, daß mit einer grundlegenden Besserung über das angedeutete Niveau hinaus vor dem Jahre 2000 nicht zu rechnen war.
Dann bin ich ein alter Mann, dachte Gerber.
Ulbert schüttelte den Kopf. Die Deutschen ein Volk von Kleinbauern und Höhlenbewohnern? So ein Unsinn!
7. August 1945. Beim Zählappell wurde über Lautsprecher eine wichtige Mitteilung verlesen: Präsident Truman hatte über einer japanischen Hafenstadt, die kaum jemand kannte, eine «Atombombe» abwerfen lassen. Die Bombe mußte ungeheure Verwüstungen angerichtet haben, denn Aufklärer sahen mehrere Stunden nach dem Abwurf nur einen riesigen Rauchpilz, der bis in die Stratosphäre reichte.
Atombombe? Was konnte das eigentlich sein? Rolf Ulbert erinnerte sich, einmal gehört zu haben, daß irgendwo in Württemberg an der Entwicklung von Geheimwaffen gearbeitet wurde. Die Spaltung des Atomkerns sollte die Grundlage des Verfahrens darstellen. Dabei konnten, wenn die Sache funktionierte, gewaltige Energiemengen frelgesetzt werden. Aber die technischen Schwierigkeiten waren wohl zu groß gewesen. Nun hatten andere die Bombe gebaut, natürlich die USA mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten.
Die neue Bombe lieferte den Männern Gesprächsstoff. «Ob das Hitlers Geheimwaffe war?» fragten sich manche. «Ein Glück, daß der Krieg in Europa zu Ende ist, sonst hätten unsere Frauen und Kinder das erste Ding auf den Kopf bekommen!» Diese Ansicht war allgemein verbreitet. Jeder kannte den Luftkrieg, doch niemand hatte auch nur annähernd eine Vorstellung von der Sprengkraf t und Strahlenwirkung dieser furchtbaren Waffe. Außerdem: Japan war weit. Man war mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.
Zwei Tage später fiel eine Atombombe auf Nagasaki. Japan, das verbissen um seine letzten Positionen kämpfte, sollte auf die Knie gezwungen werden. Mit der Unterzeichnung der japanischen Kapitulation auf dem USSchlachtschif f «Missouri» wurde der Schlußstrich unter den zweiten Weltkrieg gezogen.
Eisenhower erließ den Befehl, alle Deutschen mit sofortiger Wirkung schlecht zu behandeln. Die Sieger sollten durch ihr Auftreten zeigen, daß in ihren Augen das gesamte deutsche Volk mitschuldig an den Verbrechen der Nazis war.
Seine Anweisung betraf die US-Besatzungszone. Die britische Regierung
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